Gabriele Winker

Gabriele Winker

(Prof. Dr.)

ist Sozialwissenschaftlerin und Mitbegründerin des Netzwerks Care Revolution. Sie war Professorin an der Technischen Universtität Hamburg mit Forschungsschwerpunkten in der Arbeits-, Geschlechter- und Internetforschung.

Cover Die Corona-Gesellschaft

Dieser Text ist die Kurzfassung eines Beitrags aus der Buchpublikation »Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft«, herausgegeben von Michael Volkmer und Karin Werner, die im Juli 2020 erschienen ist.

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Schon vor dem neuartigen Corona-Virus bildete Care-Arbeit ein lebensnotwendiges Fundament der Gesellschaft. Ohne die vielen Menschen, die tagtäglich Kinder erziehen, unterstützungsbedürftige Angehörige pflegen oder Menschen in Not helfen, würde diese sofort zusammenbrechen. Sorgearbeit wird sowohl alltäglich unentlohnt in Familien als auch in Care-Berufen, etwa durch Pflegekräfte oder Erzieher*innen, geleistet und primär von Frauen ausgeführt. Nach wie vor werden Umfang und Bedeutung dieser Care-Bereiche massiv unterschätzt, obwohl vorliegende Zahlen zeigen, dass knapp zwei Drittel aller Arbeitsstunden in der BRD entlohnte und unentlohnte Care-Arbeit sind.

In Zeiten von Corona ändert sich dies allerdings teilweise. Insbesondere Pflegekräfte und Ärzt*innen erhalten große Aufmerksamkeit, da beinahe alle Menschen die Abhängigkeit von diesen Berufsgruppen unmittelbar spüren. Aber selbst in dieser zugespitzten Situation, in der von Seiten des Staates viel Geld in die Hand genommen wird, um den Virus zu bekämpfen, erfährt die familiäre Sorgearbeit kaum Unterstützung. Mit der Ausnahme von Beschäftigten in systemrelevanten Bereichen müssen viele Eltern über Wochen je individuell eine Ganztagesbetreuung ihrer Kinder realisieren und zusätzlich im Home-Office berufstätig sein.

So führen selbst in Zeiten einer Pandemie, in der die Rettung menschlichen Lebens im Vordergrund steht, große Teile der Care-Arbeit weiter ein Schattendasein. Im Zentrum stehen stattdessen Unternehmen, die profitorientiert für den Markt produzieren. Bereits in den ersten Wochen des Shutdown verkündete die Regierung, möglichst alle Unternehmen erhalten zu wollen. Dies macht zunächst wenig Hoffnung auf Veränderung.

Ich sehe allerdings gleichzeitig viele Menschen, die in der Corona-Pandemie bewusster erfahren, wie stark alle von der Sorgearbeit von Pflegekräften und Ärzt*innen abhängen. Ferner wird breit geteilt, dass Gesundheit keine Ware sein soll. Auch wird deutlich, dass das gesamte System der Kontakteinschränkung ohne die Eltern gar nicht aufrechtzuerhalten wäre. Ich sehe gleichzeitig, wie viele Menschen aufatmen, dass derzeit wenigstens etwas weniger Treibhausgase in die Luft geblasen werden. Sie hoffen, dass die Rezession jetzt auch eine Chance für ein ökologisches Umsteuern darstellt.

Diese Entwicklungen machen Mut. Und doch wird auch nach der Corona-Pandemie jeder Schritt hart umkämpft sein, der darauf abzielt, die Rahmenbedingungen für Care-Arbeit deutlich zu verbessern. Erforderlich ist deswegen eine Transformationsstrategie, in deren Zentrum der Aufbau einer solidarischen und nachhaltigen Care-Ökonomie steht. Dabei verstehe ich unter Care-Ökonomie erstens die Orte, an denen entlohnte oder unentlohnte Sorgearbeit ausgeführt wird, also Institutionen wie Krankenhäuser oder Kindertagesstätten, aber auch Familien. Zur Care-Ökonomie gehört jedoch zweitens auch der Blick auf grundlegende menschliche Bedürfnisse in Verbindung mit nachhaltigem Wirtschaften. Mit der Konzentration auf Sorge als Prinzip des gesellschaftlichen Handelns können somit weitere lebensnotwendige Bereiche wie Mobilität, Landwirtschaft oder Wohnungsbau achtsam gestaltet werden, so dass die ökologische Zerstörung gebremst werden kann.

In diesem Sinn plädiert das Netzwerk Care Revolution (www.care-revolution.org) mit seiner Transformationsstrategie für einen grundlegenden Perspektivenwechsel. Wir setzen uns für ein gutes Leben ein, in dem alle Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen können – und zwar umfassend, ohne jemanden auszuschließen und nicht auf dem Rücken anderer.

Für eine solche transformative Politik sehe ich vier Ansatzpunkte: Zunächst ist eine drastische Verkürzung der allgemeinen Erwerbsarbeitszeit erforderlich; gleichzeitig ist der Ausbau des Sozialstaats mit auf unterschiedliche Bedürfnisse zugeschnittenen Angeboten wichtig, die Menschen mit Sorgebedarf oder auch hohen Sorgeaufgaben unterstützen; dafür wiederum sind drittens demokratische Strukturen vor Ort notwendig, so dass die Bedürfnisse tatsächlich aller Menschen wahrgenommen werden. Und viertens zeigen von unten aufgebaute Gemeinschaftsprojekte oder Commons bereits heute, dass ein anderes Leben möglich ist.

Mit diesen hier umrissenen Schritten einer Care Revolution lässt sich zunächst eine solidarische und nachhaltige Care-Ökonomie auch innerhalb noch bestehender kapitalistischer Strukturen aufbauen. Langfristig erlaubt diese Transformationsstrategie den Weg in eine solidarische Gesellschaft, in der die Sphärentrennung zwischen entlohnter und nicht entlohnter Arbeit aufgehoben ist. In einer solchen solidarischen Gesellschaft haben alle Menschen freien Zugang zu dem, was in arbeitsteiliger Praxis geschaffen wird, und alle tragen gemäß ihren Bedürfnissen zur notwendigen Arbeit bei. Das bedeutet, sie entscheiden selbst über ihren Beitrag. In einer solchen Gesellschaft steht nicht mehr Konkurrenz im Fokus, sondern das zentrale Gestaltungsprinzip ist Solidarität.

(April 2020)

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