Ausgrenzungsapparat Schule ↗
Wie unser Bildungssystem soziale Spaltungen verschärft
»Das Buch macht deutlich, dass es nicht die einzelnen Personen sind, sondern der Ausgrenzungsapparat Schule selbst, der soziale Spaltungen verschärft – obwohl er als vorgebliches Ziel gerade deren Überwindung propagiert.«
Dieter Bach, www.lehrerbibliothek.de, 28.07.2021
Sie untersuchen in Ausgrenzungsapparat Schule Stigmatisierungen, die unter anderem den familiären Hintergrund betreffen. Inwiefern haben die Schulschließungen und Home-Schooling-Maßnahmen während der Corona-Pandemie diese Art von klassistischen Machtverhältnissen in der Bildungslaufbahn von Schüler*innen verstärkt?
Ich selbst habe meine Forschungen vor der Corona-Pandemie durchgeführt, doch es ist offensichtlich, dass sich die von mir beschriebenen sozialen Ungleichheiten im Schulbereich und die dadurch hervorgerufenen gesellschaftlichen Spannungen durch den Umgang mit der Pandemie weiter drastisch verschärft haben. Die räumlichen, technischen und zeitlichen Ressourcen für ein angemessenes Homeschooling sind extrem ungleich verteilt, was sich in diesem Fall direkt auf die Bildungschancen der Kinder ausgewirkt hat. Zuletzt war aber auch noch ein weiteres politisches Handlungsmuster zu erkennen, das ich bereits in meinem Buch beschrieben habe. Dort schildere ich, wie einerseits die Institution Schule symbolisch beschworen und Bildung immer wieder zur ›Chefsache‹ erklärt wird, während der Bildungssektor gleichzeitig systematisch kaputtgespart und zunehmend privatisiert wird.
Während der Corona-Pandemie wurde auch behauptet, die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs hätte ›oberste Priorität‹, obgleich der Schulsektor wenig später mit besonders drastischen Einschränkungen belegt wurde – ganz im Unterschied etwa zur Automobilwirtschaft oder zu Ländern wie Frankreich, wo die Schulen nur für kurze Zeit geschlossen wurden. In Berlin haben die Schulen nicht einmal geöffnet, nachdem die Inzidenzen unter die festgelegten Richtwerte gefallen waren, hier mussten erst Eltern die Öffnung einklagen. Die Corona-Pandemie hat also nochmal gezeigt, dass wir in einem politischen System leben, das öffentliche Bildung geringschätzt und soziale Benachteiligungen billigend in Kauf nimmt.
Sie greifen den von Stanley Cohen geprägten Begriff der Moral Panic auf, der Prozesse beschreibt, die Gruppen negative Eigenschaften zuschreiben, und beziehen ihn auf den Umgang der Massenmedien sowie des Schulpersonals mit Schüler*innen mit Migrationshintergrund. Welche Auswirkungen haben diese Ausgrenzungsmechanismen auf den Schulalltag der betroffenen Schüler*innen?
In meinem Fall wird vor allem der Islam zum ›Sündenbock‹ gemacht und dadurch moralisch delegitimiert. Dies hat eine entlastende Funktion, da damit die Verantwortung für die Schulmisere den vermeintlich ›Anderen‹ zugeschrieben werden kann. Wenn zum Beispiel Heinz Buschkowsky – der ehemalige Bürgermeister von Berlin-Neukölln – im Tagesspiegel-Interview zu den Problemen an den örtlichen Schulen befragt wurde, antwortete er: »Das ist ein kulturell muslimisches Problem.«
Journalist*innen übernehmen zumeist diese machtvolle institutionelle Deutung, auch Buschkowskys Nachfolgerin Franziska Giffey verwendete eine ähnliche Rhetorik.
Für den Schulalltag bedeutet dies, dass islamische Schüler*innen und ihre Eltern unter Generalverdacht gestellt werden. Eigentlich nicht gegen die Schule gerichtete religiös konnotierte Praktiken, wie beispielsweise das Tragen des Kopftuchs, werden nun als Angriff auf die Schule aufgefasst. Dadurch schaukeln sich immer wieder Konflikte hoch und viele der von der Gesellschaft missachteten Jugendlichen entdecken ihrerseits den Islam, zum einen als alternative identifikatorische Ressource im Prozess des Heranwachsens und zum anderen als wirksames Mittel zur Provokation des Lehrpersonals. Der Islam wird so zu einer oppositionellen Schulkultur gemacht, was in einer Art Teufelskreis wiederum Klagen der Lehrer*innen und mit entsprechenden Schuldzuweisungen gefütterte negative Medienberichte provoziert. Religiöse Selbstverortungen in der Schule sind also nicht Ausdruck von vermeintlich ›archaischen Bräuchen‹, sondern werden von der Schule selbst hervorgerufen. Dies zeigt sich auch daran, dass der Islam für die Jugendlichen nach der Schulzeit in der Regel wieder an Bedeutung verliert.
Wie schätzen Sie das Radikalisierungspotential vor dem Hintergrund der in ihrem Buch beschriebenen religiösen Bezugnahmen ein?
Im Sinne einer islamistisch-terroristischen Bedrohung gering. Auch wenn islamischer Fundamentalismus hierzulande das öffentliche Bild des Islams mittlerweile stark prägt, so handelt es sich letztlich um eine Minderheitenposition – sowohl in der islamischen Welt als auch in der muslimischen Diaspora in Europa.
Den sich in Deutschland dem Islam zuwendenden Schüler*innen eröffnen sich – wie Werner Schiffauer gezeigt hat – letztlich drei Optionen: erstens ein individualistisch-spirituelles Bekenntnis zum Islam, zweitens ein kollektivistischer Einsatz für das religiöse Recht auf Differenz und drittens die islamistische Fundamentalopposition. An den von mir untersuchten Schulen in Berlin-Neukölln und Wedding dominierte eine Mischung aus dem ersten und zweiten Typus des religiösen Bekenntnisses, die dritte Variante wurde von keinem der mir bekannten Jugendlichen ernsthaft vertreten. Vereinzelte derartige Bezugnahmen dienten offensichtlich der Provokation. Allerdings kann man beobachten, dass marxistische Gesellschaftsdeutungen von migrantisch positionierten Sekundarschüler*innen kaum übernommen werden und ein politisches Bewusstsein sich stattdessen eher über konkrete Erfahrungen von Rassismus und Islamfeindlichkeit herausbildet.