Meike Dreckmann-Nielen

Die Colonia Dignidad zwischen Erinnern und Vergessen
Zur Erinnerungskultur in der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft

»Die Zeit der Colonia Dignidad zählt zu den dunkelsten Kapiteln deutsch-chilenischer Geschichte. Da die Aufarbeitung der dort begangenen Verbrechen bis heute nur schleppend vorangeht, ist sie allerdings längst nicht nur ein historisches Kapitel, sondern für viele Opfer bittere Gegenwart. Dieses Buch möchte nun einen Beitrag zur Aufarbeitung leisten, indem es aufzeigt, wie die eigene Vergangenheit im Mikrokosmos der ehemaligen Colonia Dignidad heute verhandelt wird und welche Konsequenzen dies hat.«

Meike Dreckmann-Nielen

In den 1960er Jahren gründete der Prediger Paul Schäfer eine deutsche Siedlungsgemeinschaft in Chile. Die hierarchisch-religiösen Strukturen legten den Grundstein für den von Schäfer und seinen Anhänger*innen jahrzehntelang ausgeübten Machtmissbrauch in der Siedlung. Unter dem Deckmantel einer »religiösen Scheinlegitimierung«, wie Meike Dreckmann-Nielen formulierte, litten die Siedler*innen der Colonia Dignidad unter systematischer Unterdrückung, sexualisierter Gewalt und Folter. Als erwiesen gilt ebenso die enge Kooperation mit der chilenischen Militärdiktatur unter Augusto Pinochet seit den 1970er Jahren, so fungierte das Gelände als Ort der Repression und Folter politischer Gefangener.
Erst in den 1990er Jahren gelangten erste Berichte ehemaliger Siedler*innen und Überlebender über die Menschenrechtsverletzungen und Straftaten an die Öffentlichkeit. Nachdem Paul Schäfer 2005 u.a. wegen sexualisierter Gewalt an Kindern verurteilt worden war, löste sich die ursprüngliche Kolonie auf und transformierte sich zu dem Vergnügunsort »Villa Baviera«, die heute als Tourismusstätte und weniger als Erinnerungsort dient. Mit dieser Form des Umgangs mit der Geschichte und mit den persönlichen Erinnerungen der ehemaligen Siedler*innen beschäftigt sich Meike Dreckmann-Nielen in ihrer Studie zur Erinnerungskultur der Colonia Dignidad.


In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Colonia Dignidad sich über Jahre in einen »perfekt inszenierten Musterbetrieb entwickelte, der der durch sein gutes Image und die bestehenden Kontakte in politische und wirtschaftliche Kreise immer mächtiger wurde«. Wie gelang es dem Anführer Paul Schäfer jahrelang die Kontrolle über seine Mitglieder zu behalten? Und welchen Anteil daran hat die damalige deutsche Regierung zu verantworten?

Paul Schäfer hatte die Siedlungsgemeinschaft über die Jahre zu einer nach Außen komplett abgeschnittenen Gruppe organisiert. Er trennte die einzelnen Mitglieder voneinander, sodass Frauen-, Männer- und Kinder in unterschiedlichen Häusern untergebracht wurden. Damit gelang es ihm u.a. Familienbande, aber auch Freundschaften zu verhindern. Die Isolation der Einzelnen, gepaart mit gnadenloser psychischer und physischer Gewalt, etablierte ein Klima der Angst. Jede*r Einzelne wurde bspw. dazu angehalten, vermeintliches Fehlverhalten der anderen zu melden. Die Bestrafung für die willkürlich als Sünde betitelten Lappalien wurde dann oftmals durch eine Gruppe ausgeführt. Paul Schäfer schaffte somit strikte Regeln und Hierarchien. Vor allem aber behielt er mit einer Gruppe weiterer älterer Männer die Kontrolle über die Informationsflüsse. Die allermeisten Mitglieder hatten keinen Zugang zu Informationen, die nicht zensiert wurden. Wichtig ist auch der religiöse Überbau gewesen. Viele Entscheidungen, Vorgaben und Regeln scheinlegitimierten Schäfer und seine Vertrauten im Namen eines christlichen Gottes.

In Bezug auf die damalige deutsche Regierung ist anzumerken, dass diese einen gewissen Anteil an der Aufrechterhaltung der Kontrolle von Paul Schäfer über seine Gemeinschaft trug. Trotz Hinweisen und Anzeigen über die Missstände und Verbrechen in der Colonia Dignidad zeigte die deutsche Regierung mangelndes Engagement bei der Intervention und Aufklärung. Frank-Walter Steinmeier – damals noch in seiner Funktion als Bundesaußenminister – sagte bei einer Rede 2016: »Im Spannungsfeld zwischen dem Interesse an guten Beziehungen zum Gastland und dem Interesse an der Wahrung von Menschenrechten ging Amt und Botschaft offenbar die Orientierung verloren.« Es handelt sich um ein vielschichtig komplexes Thema. Mein Kollege, der Politikwissenschaftler Jan Stehle, hat die Rolle des Auswärtigen Amtes für die Geschichte der Colonia Dignidad auf über 600 Seiten im Detail untersucht. Seine Dissertation ist ebenfalls bei transcript als Open Access-Publikation einsehbar und ich empfehle allen Interessierten unbedingt die Lektüre.


Das ehemalige Gelände der Colonia Dignidad wurde umgebaut in die »Villa Baviera«, die heute Tourismus im bayrischen Stil betreibt. Wie haben Sie Ihre Besuche in der »Villa Baviera« erlebt? Gibt es so etwas wie ein Bewusstsein für die Verbrechen? Zumal die Betreiber*innen auch Mitglieder der Kolonie waren.

Die ehemalige Siedlungsgemeinschaft Colonia Dignidad wird heute tatsächlich von ehemaligen Mitgliedern der Gruppe als touristisches Freizeitdorf betrieben. Es gibt ein Hotel, ein Restaurant und einen Laden, in dem selbst hergestellte Produkte wie Wurst, Käse, Quark und Brot verkauft werden. Zudem wird ein umfangreiches Veranstaltungskonzept angeboten. Das deutsche Dorf ist beispielsweise eine beliebte Hochzeitslocation. Diese scheinbar fröhliche Umgestaltung des historischen Ortes der Verbrechen ruft bei vielen Besucherinnen und Besuchern Unbehagen hervor. Es fällt vielen Menschen schwer zu verstehen, warum diejenigen, die selbst schwerer Gewalt ausgesetzt waren, freiwillig an einem Ort mit einer so belasteten Vergangenheit leben möchten.

Das aktuelle Konzept der Villa Baviera stößt besonders bei den Betroffenengruppen, die nicht zu den Betreibern des Freizeitdorfes gehören, auf große Kritik. Dazu gehören Überlebende von Folter, Familienangehörige der sogenannten Verschwundenen, die während der chilenischen Militärdiktatur in die deutsche Siedlung verschleppt und mutmaßlich ermordet wurden. Auch ehemalige Kinder, die in den 1990er-Jahren Opfer sexualisierter Gewalt wurden und bis heute um eine angemessene Aufarbeitung kämpfen, gehören zu den betroffenen Gruppen. Sie kritisieren, dass die fröhliche deutsche Folklore die grausame Vergangenheit überschattet und echte Aufklärung verhindert.

Was das Bewusstsein für die begangenen Verbrechen betrifft, ist es wichtig anzumerken, dass dies von Fall zu Fall unterschiedlich ist. Es gibt ehemalige Mitglieder, die sich ihrer Vergangenheit stellen und versuchen, ihre Erfahrungen aufzuarbeiten und aufzuklären. Allerdings kann nicht pauschalisiert werden, dass alle Betreiber der Villa Baviera ein umfassendes Bewusstsein für die begangenen Verbrechen haben. Die Menschen haben individuell und als Gruppe unterschiedliche Wege gefunden, mit ihrer Vergangenheit umzugehen. In meiner Dissertation habe ich diesen Umgang untersucht und eine zentrale erinnerungskulturelle Dynamik identifiziert, die ich in der Studie als »Vergebungsmaxime« bezeichnet habe. Es zeigte sich, dass es eine Art innergemeinschaftliche Vereinbarung gibt, wie mit der Vergangenheit umgegangen wird. Diese Vereinbarung ist eine Voraussetzung dafür, dass die Menschen überhaupt gemeinsam an diesem Ort leben können. Die heutigen Bewohner*innen der ehemaligen Colonia Dignidad geben an, einander alle Verbrechen vergeben zu haben. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass es zu Versöhnung gekommen ist, aber – so formulieren es viele Zeitzeug*innen – es wird kein »Groll« mehr gegenüber den anderen gehegt, um den Schmerz der Vergangenheit loszulassen. Dieser Gedanke wird durch ein christliches Verständnis von Vergebung gestützt, das eng mit einer Vorstellung vom Jenseits verbunden ist. Nur wenn die Menschen sich im Diesseits gegenseitig vergeben, kann Gott ihnen auch im Jenseits vergeben und sie in den Himmel aufnehmen. Dieser Gedanke ist für die meisten ehemaligen Mitglieder der Colonia Dignidad von großer Bedeutung.

Insgesamt lässt sich aber sagen, dass innerhalb der Gemeinschaft der ehemaligen Mitglieder unterschiedliche Auffassungen und Haltungen zur Erinnerungskultur bestehen, die sich auch im Laufe der Zeit verändern können.


Welche Maßnahmen fordern Sie von der Politik, um die Aufarbeitung der Verbrechen voranzutreiben?

Um die Aufarbeitung der Verbrechen in Bezug auf die Colonia Dignidad voranzutreiben, sollten verschiedene Maßnahmen ergriffen werden:

  1. Eine umfassende Untersuchung und strafrechtliche Verfolgung der Täter*innen: Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Täter*innen, die an den Verbrechen in der Colonia Dignidad beteiligt waren, zur Rechenschaft gezogen werden. Dies erfordert eine gründliche Untersuchung und Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden in Chile und Deutschland, um die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen.
  2. Unterstützung der Opfer bei der Aufarbeitung ihrer traumatischen Erfahrungen: Die betroffenen Opfer benötigen sowohl weitere finanzielle als auch psychologische Unterstützung, um ihre Traumata zu bewältigen und ihr Leben wiederaufzubauen. Es sollten weitere Ressourcen bereitgestellt werden, um ihnen bei der Bewältigung ihrer Vergangenheit zu helfen.
  3. Bildungsprogramme und Aufklärungskampagnen: Die Politik sollte Bildungsprogramme fördern, die die Öffentlichkeit weiter über die Verbrechen und die Hintergründe der Colonia Dignidad aufklären. Dies kann helfen, ein breiteres Bewusstsein für die begangenen Verbrechen zu schaffen und die Aufarbeitung zu unterstützen.
  4. Zusammenarbeit zwischen den Regierungen Chiles und Deutschlands: Eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden Regierungen ist unerlässlich, um den Informationsaustausch, die strafrechtliche Verfolgung und die Aufarbeitung der Verbrechen zu erleichtern. Eine gemeinsame Anstrengung beider Länder kann dabei helfen, die Vergangenheit umfassend zu erforschen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Geschichte der Colonia Dignidad offenbart auch eine spezifische Geschlechterdynamik: Inwiefern äußerte sich die systematische Abwertungund intersektionale Diskriminierung insbesondere Frauen/weiblich gelesenen Personen gegenüber? Spiegeln sich diese Machtverhältnisse in der (gegenwärtigen) Erinnerungskultur wider?

Die Colonia Dignidad war konsequent nach männlichem Vorbild organisiert, wobei ein binäres Geschlechterverständnis vorherrschte. Innerhalb dieses Systems waren Frauen den Männern absolut untergeordnet. Eine Zeitzeugin drückte es treffend aus: »Für Paul Schäfer waren wir nur die Putzlappen.« Frauen wurden kontinuierlich abgewertet, beleidigt und als minderwertig angesehen. In der vorhandenen Literatur wurde lange Zeit besonders über die grausame sexualisierte Gewalt berichtet, die den Jungen in der Colonia Dignidad widerfuhr. In meinen Interviews mit Zeitzeuginnen habe ich gezielt auch nach ihren Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gefragt. Es wurde deutlich, dass viele Frauen nie zuvor über ihre Erfahrungen gesprochen hatten. Ihnen war ebenfalls sexualisierte Gewalt durch Paul Schäfer und andere Männer widerfahren. Allerdings wurden sie nie danach gefragt, fühlten sich unwohl dabei, über sich selbst zu sprechen, und wussten oft nicht, dass sie mit ihren schrecklichen Erfahrungen nicht allein waren. Schäfer und die Führungsriege hatten dafür gesorgt, dass die Mitglieder keine Möglichkeit hatten, sich untereinander auszutauschen. Selbst nach Schäfers Abtauchen herrschte ein Klima des Misstrauens, sodass diese Erlebnisse nie untereinander geteilt wurden.

Im Jahr 2019 erzählten mir Zeitzeuginnen, dass das Interviewprojekt von Heike Rittel, bei dem gezielt die Erinnerungen von Frauen erfragt wurden, dazu führte, dass die Frauen begannen, sich untereinander auszutauschen. Dieser Austausch ermutigte weitere Frauen in der Gruppe, ihre Geschichten zu erzählen. Ich gehe detailliert auf diese Entwicklung in einem meiner Ergebniskapitel ein. Ihre Frage lässt sich also klar bejahen: Die historischen Machtverhältnisse spiegeln sich bis heute in der Erinnerungskultur wider. Allmählich beginnen jedoch Veränderungen. Interessant ist auch, dass wir durch die Auseinandersetzung mit Fragen der Erinnerungskultur auch neue Erkenntnisse über die Geschichte gewinnen. Die Geschichtsschreibung der Colonia Dignidad steht meiner Einschätzung nach immer noch am Anfang.


Meike Dreckmann-Nielen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin im Bereich Public History. Außerdem ist sie Initiatorin und Autorin des Colonia Dignidad Public History Forschungsblogs (CDPHB). Ihr Dissertationsprojekt entstand im Rahmen eines Promotionsstipendiums der Heinrich-Böll-Stiftung.



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»Jan Stehle beschreibt das pseudoreligiöse Zwangssystem des Paul Schäfer in Chile akribisch und arbeitet heraus, warum sich kaum eine Behörde in Deutschland um die Verbrechen in der Colonia Dignidad kümmerte – bis heute.«

Peter Burghardt, Süddeutsche Zeitung