
Eleonora Rohland
ist Professorin für Verflechtungsgeschichte der Amerikas in der Vormoderne an der Universität Bielefeld und Direktorin des dortigen
Center for InterAmerican Studies (CIAS).
Ihre Forschung verbindet die Umwelt- und Klimageschichte mit der interamerikanischen Kolonial- und Verflechtungsgeschichte.

Dieser Text ist die Kurzfassung eines Beitrags aus der Buchpublikation »Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft«, herausgegeben von Michael Volkmer und Karin Werner, die im Juli 2020 erschienen ist.
Ich möchte sowohl die Corona-Krise als auch die Klimakrise in den Kontext eines umfassenderen Phänomens, ja, wenn man möchte, in den Kontext einer noch größeren Krise stellen, und beide als Elemente der selbigen begreifen. Ich spreche vom sogenannten Anthropozän. Das Konzept wird seit Kurzem häufiger in den öffentlichen Printmedien und auch im öffentlichen Fernsehen diskutiert. Die Natur- und Geisteswissenschaften beschäftigt es schon seit zwanzig Jahren. Es wurde vom belgischen Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen und vom U.S.-amerikanischen Biologen Eugene Stoermer im Jahr 2000 (Crutzen/Stoermer 2000: 17) vorgeschlagen und bezeichnet ein neues, geologisches Zeitalter, in dem der Mensch durch seine schiere Zahl und durch seine kollektiven Emissionen zur den Planeten verändernden Kraft wird. Da die Internationale Kommission für Stratigraphie noch keine abschließende Entscheidung über die offizielle Einführung des Anthropozän getroffen hat, befinden wir uns noch im Holozän, der geologischen Epoche seit der letzten Eiszeit vor 11700 Jahren.
Die Diskussion des Anthropozäns als neuer geologischer Epoche fokussierte sich rasch auf die Frage nach dem Zeitpunkt des Beginns dieses neuen Zeitalters. Geolog*innen haben für die Bestimmung solcher Epochen spezifische Kriterien etabliert, die die Sedimente betreffen und sich nicht unbedingt mit jenen von Historiker*innen decken. Dennoch wird der Beginn des Anthropozäns mittlerweile in breiter Übereinstimmung ab 1950 unter dem Begriff der »großen Beschleunigung« vorgeschlagen. Die Tatsache dieser »großen Beschleunigung« bedeutet jedoch auch, dass eine Vorgeschichte zu diesem Zeitpunkt existiert, eine Phase der langsameren Aggregierung dieser ›anthropozänischen‹ Prozesse. Wenn wir aus der Gegenwart auf das Anthropozän schauen, ist klar, dass es sich um ein globales Phänomen handelt. Um also die Vorgeschichte dieser »großen Beschleunigung« zu erkunden, macht es Sinn, die Geschichte der frühen Globalisierung und damit der europäischen Expansion in die Amerikas um 1492 näher zu betrachten. Das mag auf den ersten Blick als extrem tiefer Rückgriff in die Geschichte erscheinen. Um jedoch die Frage nach weißem Überlegenheits- oder Herrschaftsdenken zu beantworten, ist er essentiell. Denn hier, ab dem frühen 16. Jahrhundert, finden wir die ersten Beispiele für die massive Ausbeutung natürlicher Ressourcen und für die Veränderung und Zerstörung von Ökosystemen durch Europäer, basierend auf der Versklavung indigener und afrikanischer Bevölkerungen. Ohne die Gewalt und Grausamkeit dieser Versklavung aus dem Blick zu verlieren, ist es für die Verbindung zum Anthropozän hilfreich, sie für einen Moment in der scheinbar neutralen Perspektive der Energiegeschichte zu betrachten. Denn die Versklavung indigener Bevölkerungen verhalf den spanischen Konquistadoren zu einem verlässlichen Strom an ›billiger‹ Energie (Muskelkraft), um – unter anderem – die Silberminen Potosís in Bolivien auszubeuten und so den lukrativen Silberhandel mit China zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Auf der Basis dieser blutigen ›Energie‹ und dieses Handels gelangte das spanische Empire zur Blüte.
Nach dem massenhaften Wegsterben der indigenen amerikanischen Bevölkerung durch die Gewalt und die eingeschleppten Krankheiten der Europäer, mussten die entstandenen Lücken – so die spanische Logik – durch andere, ›versklavbare‹ Bevölkerungsgruppen geschlossen werden. Dem Modell der Portugiesen folgend, begannen erst die Spanier und dann die weiteren europäischen Kolonialmächte, versklavte Afrikaner*innen auf den amerikanischen Kontinent zu deportieren. Neben dem Silberabbau in den Minen Potosís sind die Zuckerplantagen der Karibik ein weiteres Beispiel (neben vielen anderen) der Ressourcenextraktion auf der Basis von brutaler Zwangsarbeit. Hier wurde menschliche Arbeitskraft – Energie – buchstäblich ›verbraucht‹.
Diese allgemein bekannte Geschichte der Versklavung indigener amerikanischer und afrikanischer Bevölkerungsgruppen durch Europäer unter dem Gesichtspunkt der Energiegeschichte zu betrachten, mag auf den ersten Blick befremden und schockieren, da durch sie das in die Zwangsarbeit involvierte menschliche Leid scheinbar unsichtbar gemacht und Menschen verdinglicht werden. Die Perspektive hilft jedoch zu verstehen, wie tief Ressourcenausbeutung, damit einhergehende Umweltzerstörung und die Ausbeutung bestimmter Menschengruppen unter dem Gesichtspunkt ihrer Arbeitskraft als Energie miteinander verflochten sind. Sie hilft, die lange Zeitdauer, über die hinweg diese Verflechtung ›eingeübt‹ und naturalisiert wurde, in den Blick zu bekommen und das Verständnis für die ursprüngliche Zusammensetzung des westlichen Energiekultur-Modells zu schärfen.
Bedeutende Teile dessen, was unter dem Begriff der europäischen oder westlichen Moderne gefasst wird, basierten energietechnisch, wirtschaftlich, kulturell und wissenschaftlich auf diesem Ausbeutungsverhältnis. Hier liegen die tiefen historischen Schichten des systemischen Rassismus. Die – aus weißer Sicht – Notwendigkeit der Ausbeutung versklavter Afrikaner*inner zur Erhaltung der kolonialen Ökonomien löste sich erst mit dem Wechsel vom solaren (Wind, Wasser, Muskelkraft) auf ein fossiles Energieregime (Kohle, Öl) mit der Industrialisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die Nutzung fossiler Energieträger befreite die westlichen Gesellschaften von den Erneuerungs- und Schwankungszyklen des vormodernen Energieregimes, das der gesellschaftlichen Entwicklung vor allem über die Nahrungsmittelproduktion klare Grenzen vorschrieb. Allerdings führte die Aufhebung der Sklaverei, die mit diesem Wechsel der Energieregime und der Industrialisierung einherging, nicht zum Ende der Benachteiligung ehemals versklavter Afro-Amerikaner*innen.
In der Folge der Industrialisierung co-evolvierten westliche Nationalstaaten und Demokratien mit diesem fossilen Energieregime und bauten ihre politischen und gesellschaftlichen Selbstverständnisse auf dem, was der Klimahistoriker Franz Mauelshagen »fossile Freiheiten« genannt hat, auf (Mauelshagen 2020). Diese »fossilen Freiheiten« waren im Laufe der eben im Abriss nachgezeichneten Geschichte der ungleichen, kolonialen und rassistischen Ausbeutungsverhältnisse in den Amerikas (und anderen durch Europäer kolonisierten Weltregionen) entstanden. Bis heute sind diese »fossilen Freiheiten« und die mit ihnen gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen und Vorteile vor allem ›weiße Freiheiten‹.
In der Gegenwartsdiagnose des Anthropozäns kommen diese »fossilen Freiheiten«, die auf der Geschichte weißer Überlegenheitsdiskurse und vor allem -praktiken basieren, nun an ihre Grenze. Der menschgemachte Klimawandel, der durch die Nutzung der fossilen Energien ausgelöst wurde, kann nur durch einen radikalen Wandel des gegenwärtigen Energiesystems und der Energienutzung eingedämmt werden. Wie sehr eine solch grundsätzliche Transformation in gesellschaftliche Gewohnheiten und mittlerweile global gewachsene wirtschaftliche Strukturen eingreifen würde und eingreift, wurde zum einen an den schwergängigen politischen Debatten zur CO2-Reduktion und zum anderen nun während der Corona-Krise ersichtlich.
Hand in Hand mit der Infragestellung des Energieregimes und seinen Freiheiten geht auch die Infragestellung der mit ihm verbundenen kulturellen und politischen Selbstverständnisse und Selbstverständlichkeiten. Am besten lässt sich dieser Prozess anhand der Energie- und Umweltpolitik Donald Trumps veranschaulichen. Seine militante Rückkehr zu und Stärkung von Kohle und Öl-Industrien in den USA, seine Rücknahme von Umweltstandards und Freigabe der Nutzung von Nationalparks zur Ressourcenausbeutung sind sein Bekenntnis zu einer als »great« imaginierten Vergangenheit, die auf eben jener Nutzung fossiler Energien und einem weißen Macht- und Männlichkeitsverständnis basiert. Der Präsident Brasiliens, Jair Bolsonaro, und seine Amazonas-Politik ist ein weiteres, extremes Beispiel.
Systemischer Rassismus ist also – und nicht nur in den Amerikas – historisch tief in der (Energie-)Geschichte des Anthropozäns verankert. Aus dem weiter oben Gesagten wird ersichtlich, wie sowohl die Klimakrise als auch die Corona-Krise mit dem Anthropozän verbunden sind. Selbstverständlich ist es sinnvoll, sie als gesonderte Prozesse zubetrachten. Dennoch hilft vielleicht die Einbettung in den energie- und kolonialgeschichtlichen Kontext der Krise des Anthropozäns, das fast synchrone Auftreten dieser multiplen und sowohl die Umwelt als auch die Gesellschaft betreffenden, gegenwärtigen Krisen besser einzuordnen.
Literaturverzeichnis
Crutzen, Paul J./Stoermer, Eugene F. (2000): The „Anthropocene“. In: International Geosphere-Biosphere Program (IGBP) Newsletter 41 vom Mai 2000, S. 17.
Mauelshagen, Franz (2020): The Dirty Metaphysics of Fossil Freedom. In: The Anthropocenic Turn: Interplay Between Disciplinary and Interdisciplinary Responses to a New Age, edited by Gabriele Dürbeck and Philip Hüpkes. New York: Routledge, S. 59-76.