Anna Henkel

ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Universität Passau.

Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der soziologischen Theorie sowie der Wissens-, Materialitäts- und Nachhaltigkeitsforschung.

Cover Die Corona-Gesellschaft

Dieser Text ist die Kurzfassung eines Beitrags aus der Buchpublikation »Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft«, herausgegeben von Michael Volkmer und Karin Werner, die im Juli 2020 erschienen ist.

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Nach dem Bericht an den Club of Rome gelten als Zentralpunkt menschlicher Sorge jene Probleme, die aufgrund ihrer zeitlichen und räumlichen Nähe als dringlich erlebt werden (Meadows/Meadows et al. 1972: 12ff.). Globale Veränderung des Klimas, die Verschmutzung der Ozeane oder eine Pandemiegefahr sind entsprechend wenig handlungsauslösend. Mit Corona wird ein derart Fernes zu einer sich plötzlich massiv aufdrängenden Gefährdung: Menschen sterben, hier und jetzt – und das global. Corona lässt sich daher aus der Perspektive einer materialitätstheoretisch erweiterten Systemtheorie als Stresstest für die Gesellschaft betrachten.

Aus systemtheoretischer Perspektive ist die Welt, wie sie ist, aber sie ist nicht als solche verfügbar. In der Weltauslegung der funktional differenzierten Gesellschaft wird Außenweltsensibilität über die Funktionssysteme hergestellt, was dann eine gesamtgesellschaftliche Resonanz auslösen kann. Speziell bezüglich außenweltbedingter gesellschaftlicher Selbstirritation fungiert in der funktional differenzierten Gesellschaft der gemeinsame Bezug der Funktionssysteme auf Dinge (Henkel 2017), indem z.B. wissenschaftliche Theorien für die Bestimmung von Eigenschaften, politisch-rechtliche Regulierungen für die Normierung sowie wirtschaftliche Zahlungen für das »Haben« hier ansetzen können. Diese Form des gesellschaftlichen Umgangs mit der Außenwelt ist doppelt effektiv: Erstens stärkt sie die stabilen Austauschverhältnisse zwischen den Funktionssystemen; zweitens reduziert sie komplexe Rückkopplungsverhältnisse auf vereindeutigte Probleme. Außenwelt ist auf diese Weise von situativen Kontexten und Interpretationen entkoppelt und liegt als autonome Materialität vor.

Entsprechend wäre es für die funktional differenzierte Gesellschaft am einfachsten, wenn zeitnah ein Impfstoff vorliegt: Damit reagiert Gesellschaft, indem sie funktionssystemübergreifend ein konkretes Problem spezifiziert, das sie durch eine ebenso konkrete – dingförmige – Lösung, nämlich als autonome Materialität, bearbeiten kann. Wissenschaft bestimmt Eigenschaften des Impfstoffs, Politik und Recht regulieren Zulassungs- und Verteilungsmechanismen, Wirtschaft stellt ein Zahlung auslösendes Produkt her – mit doppeltem Effekt: Außenweltinduzierte Irritation ist so transformiert, dass die Erwartungen aus der Weltauslegung der Gesellschaft wieder bestätigt sind; innergesellschaftliche Irritation zwischen den Funktionssystemen ist normalisiert. Jedoch schon auf diesem präferierten Weg hin zum Impfstoff verändert die als Corona benannte Außenwelt-Irritation die innergesellschaftliche Umwelt heftig. Entstehende Schäden entstehen unmittelbar und sind in Umfang und Konsequenzen immer weniger hinnehmbar, je länger die Bearbeitung des eigentlichen Problems nicht gelingt.

Corona als Test betrachtet zeigt drei zentrale Probleme. Erstens können ferne Gefährdungen sehr plötzlich nahe rücken. Zweitens erfordern derart nahe gerückte Gefährdungen, dass in sehr kurzer Zeit eine gesamtgesellschaftlich stabile Form der Bearbeitung vorliegt, da bereits eine kurzzeitige Störung des Zusammenspiels der Funktionssysteme Schäden mit sich bringt. Drittens ist erfolgreiche Problembearbeitung gesellschaftlich existentiell, denn gelingt diese nicht, kommt es über eine Phase von Problemverschiebung und Illusionierung zur Erosion funktionaler Differenzierung – ganz abgesehen von der Möglichkeit, dass eine Außenwelt entstehen kann, in der Gesellschaft nicht mehr existenzfähig ist.

Im Falle von Corona ist zu erwarten, dass es soweit nicht kommt. Die Gefahr einer neuartigen Pandemie aber bleibt auch nach Corona; weitere, nicht erst seit dem Bericht an den Club of Rome bekannte Kandidaten nahe rückender Außenweltgefährdung wie Klimawandel, Vermüllung oder Ressourcenverlust sind erheblich diffuser. Es lohnt daher, nach Ableitungen aus dem Corona-Test für die Gesellschaft zu fragen. Aus systemtheoretischer Perspektive sind es mindestens folgende:

Erstens muss die funktional differenzierte Gesellschaft ihre Strukturen besser absichern, um Zeit zu gewinnen. Zweitens muss die funktional differenzierte Gesellschaft Rückkopplungsverhältnisse bei der Entstehung autonomer Materialität stärker berücksichtigen, um Störungsanfälligkeit zu verringern. Und drittens muss die funktional differenzierte Gesellschaft zusätzliche Formen stabiler Kopplung entwickeln, um ihre Bearbeitungsmöglichkeiten von Außenweltirritationen zu erweitern, was mit dem Arbeitstitel autonome Immaterialität bezeichnet werden soll. Verstanden wird darunter eine strukturelle Kopplung, die parallel zur autonomen Materialität gedacht ist – allerdings nicht ein Ding (wie etwa einen Impfstoff), sondern einen angestrebten Zustand zum Gegenstand des Zusammenspiels der Funktionssysteme macht.

Nimmt man Corona als Test für gesellschaftlichen Strukturwandel, dann gilt es, die Richtung und die Zielsetzung dieses Wandels positiv zu gestalten.

Literatur

Henkel, Anna (2017): Die Materialität der Gesellschaft. Soziale Welt 68 Themenheft: Welche Konsequenzen hat eine Einbeziehung von Materialität für die Untersuchung »des Sozialen«? (Gastherausgeberinnen Anna Henkel und Gesa Lindemann) (2-3), S. 279-300.

Meadows, Dennis/Meadows, Donella/Zahn, Erich/Milling, Peter (1972): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Gütersloh: Bertelsmann.