Uwe Becker

Deutschland und seine Flüchtlinge
Das Wechselbad der Diskurse im langen Sommer der Flucht 2015

»Uwe Becker führt eindringlich vor Augen, wie wir uns das Weltgeschehen durch Erzählungen zurechtlegen, und lässt uns dabei in einem Licht erscheinen, in dem wir uns nicht gern wiedererkennen. Eine brisante und überfällige Studie.«

Albrecht Koschorke, Universität Konstanz

Am 24. Februar 2022 setzte die russische Armee – für viele unerwartet – zu einem großangelegten Angriffskrieg auf die Ukraine an. Das Entsetzen und die Bestürzung, nicht nur der ukrainischen Regierung und Bevölkerung, sondern auch eines großen Teils der Vereinten Nationen, beschäftigte die medialen Kommentierungen der folgenden Tage. Dabei erlangte die politische Elite unverzüglich die Deutungshoheit über jene Ereignisse. Bereits einen Tag nach Kriegsbeginn sprach Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Regierungserklärung mehrfach von einer »Zeitenwende«, die sich durch diesen Krieg »in der Geschichte unseres Kontinents« ereignet habe, ein Begriff, der in ZEIT und ZEIT ONLINE auch kritisch kommentierende Reaktionen auslöste. Diese Zeitenwende sei weltumfassend, denn: »Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor« (Zum Artikel ). Es stelle sich jetzt die Frage, ob »wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen« und »die Ukraine in dieser verzweifelten Lage [zu] unterstützen« (ebd.).

Der Deutungshorizont der »Zeitenwende« und der über Nacht erfolgten Eruption der alten Welt galt demnach nicht nur der Kommentierung des Krieges, sondern legitimierte auch die Neuausrichtung deutscher Politik: Die Einrichtung eines Sondervermögens für die Aufrüstung der Bundeswehr, eine Steigerung der Verteidigungsausgaben, Waffenlieferungen an die Ukraine, massive Sanktionen gegen Russland und eine sich von Russland emanzipierende Energiepolitik hin zu erneuerbaren Energien, die Finanzminister Christian Lindner als »›Freiheitsenergien‹« bezeichnete (Zum Artikel ). Damit haben sich, wie ein von mehreren Redakteurinnen und Redakteuren in ZEIT ONLINE veröffentlichter Artikel meint, innerhalb weniger Tage die »politischen Koordinaten verschoben. Die SPD wirft 30 Jahre Außen- und Sicherheitspolitik über Bord, die Grünen verabschieden sich endgültig vom Pazifismus, die FDP vom Sparen um jeden Preis und davon, dass die Energiewende den Staat nichts kosten dürfe« (Zum Artikel ). Auch die Politik der Europäischen Union weiß sich, wie ihre Präsidentin gegenüber »Deutschlandfunk« betonte, nicht nur einig in der Verurteilung des »schiere[n] Grauen[s]«, sondern man sehe auch, »dass unsere Sanktionen schnell, geeint und enorm wirksam sind« (Zum Artikel ).

Die erste Frage: Von welcher Bestandskraft wird dieses Narrativ sein? Einerseits ist zu unterstellen, dass die Flüchtlingshilfebewegung – ähnlich wie in der Zeit nach 2015 – auch die Geflüchteten aus der Ukraine mit großem Engagement und einem »hohe[n] Grad an Selbstorganisation« konstant begleiten wird, selbst wenn sich das politische Klima im Rahmen dieser »Willkommenskultur« ändern mag (Zum Artikel ). Andererseits wird sich zeigen, wie dauerhaft das Zeitenwende-Paradigma mehrheitlich Gefolgschaft findet, wenn sich die Energieversorgung in Deutschland aufgrund eines perspektivisch denkbaren, vollständigen Einfuhrstopps von russischem Gas verknappen, wenn sich die Kosten für Heizung, Benzin, Öl, Getreideprodukte, aber auch für Nickel, Palladium oder Aluminium (vgl. Zum Artikel ) weiterhin deutlich erhöhen, wenn die Kaufkraft sinken und die deutsche Wirtschaft eine Phase der Rezession erleben wird.

Die zweite Frage gilt dem globalen Charakter dieser umfassenden, eine neue Welt generierenden »Zeitenwende«. Ist tatsächlich die ganze Welt seit dem 24. Februar eruptiv verändert, nicht mehr »wie die Welt davor«? Von Zeitenwende spüren sicher diejenigen nichts, die seit Jahren in den Auffanglagern der ägäischen Inseln teilweise Jahre auf ihre Asylverfahren warten. Auch diejenigen, die von der Praxis des Refoulement oder der Push-backs betroffen sind, auf offener See aufgegriffen und an die libysche Küste deportiert werden, erleben nur die Kontinuität völkerrechtswidriger Vergehen. Genauso wenig erfahren diejenigen eine Veränderung ihres Elends, die auf dem afrikanischen Kontinent mit Hilfe westlichen Sicherheits-Knowhows überwacht und an der von Hunger und Unterernährung angetriebenen Wanderungsbemühung gehindert werden. Auch in Deutschland seit Jahren lebende Geflüchtete, etwa aus Syrien oder Afghanistan, profitieren offensichtlich nicht von dieser »Zeitenwende« oder wenn, dann eher auf eine schmerzliche Art. So wurde Anfang März in Soest eine Zentrale Unterbringungseinrichtung, in der mehr als 800 Geflüchtete aus diesen Ländern wohnten, geräumt, um ukrainische Geflüchtete unterzubringen (Zum Artikel ). Das ist eine Erfahrung, über die auch eine Fachanwältin für Migrationsrecht in ZEIT ONLINE zu berichten weiß und deshalb vor einer »Zweiklassengesellschaft für Geflüchtete« warnt (Zum Artikel ).

Eine »Zeitenwende« ganz anderer Art hingegen haben Schätzungen zu Folge »bis zu 100 Millionen Menschen« in »Afrika oder dem Nahen Osten« zu erwarten, die durch den »Stillstand des Getreideexports« aus der Ukraine und aus Russland »in den Hunger« getrieben werden (Zum Artikel ). Der ZEIT-Redakteur Bernd Ulrich geht nachvollziehbar davon aus, dass diese Verschärfung der globalen Ernährungskrise »aller Wahrscheinlichkeit nach noch mehr Flüchtende nach Europa bringen wird, diesmal von Süden« (Zum Artikel ). Es darf bezweifelt werden, dass diese Geflüchteten dann als Mitglieder »unserer Familie« ähnlich gastfreundlich und asylrechtlich angemessen Aufnahme finden, wie es den geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern mit gutem Grund (bislang) zuteilgeworden ist. Zu erwarten oder eher zu befürchten sind noch einige Wechselbäder der Diskurse, die deutlicher konturieren werden, was von dem großen Narrativ der »Zeitenwende« übrigbleibt.

Uwe Becker ist Professor für Sozialethik, designierter Präsident der Evangelischen Hochschule Darmstadt und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Er publiziert zu Themen gesellschaftlicher Exklusion u.a. in der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Rundschau und der ZEIT.