In der gemeinsam verfassten Monografie »Die Ampelkoalition« analysieren Pola Lehmann, Theres Matthieß, Sven Regel und Bernhard Weßels, was vor den Wahlen versprochen wurde, wie dies Eingang in die Sondierungsgespräche fand und unter welchen Reibungsverlusten es schließlich im Koalitionsvertrag steht. Welche Anliegen gehen über die Sondierungen bis zu den Koalitionsverhandlungen verloren? Welche finden mehr oder weniger direkt Einzug und wo sind Kompromisse zwischen den drei Parteien erkennbar?
Die Antworten auf diese Fragen stehen in einem engen Zusammenhang mit der wahrgenommenen Repräsentation von Seiten der Wähler*innen. Diese treffen ihre Wahlentscheidung anhand der Versprechen, die die Parteien vorab verlautbaren. Je mehr eine Partei hiervon in den Koalitionsvertrag überführen kann, desto besser fühlen sich die jeweiligen Wähler*innen politisch vertreten.
In einem Regierungsbündnis, das drei unterschiedliche Wahlprogramme in Einklang bringen muss, ist selbstredend, dass der Koalitionsvertrag, der sich daraus ergibt, nicht allen Anliegen gerecht werden kann. Dieser gilt aber sodann als Blaupause, an der das Regierungshandeln gemessen wird. Die Regierung ist in der Verantwortung, ihre Politik an diesem Papier auszurichten und damit ihre Legitimation zu sichern.
Unvorhersehbare Ereignisse können wiederum dazu führen, dass einige Versprechungen der Koalition nicht umsetzbar sind. Die Ampelkoalition ist in Anbetracht des Ukraine-Kriegs gleich zu Beginn ihrer Regierungszeit mit einem solchen Ereignis konfrontiert.
Der Ukraine-Krieg stellt eine besondere Herausforderung für die neue Regierung dar, aber auch in der Vergangenheit gab es unvorhersehbare Ereignisse. Wie wirkt sich das auf Versprechen aus?
Unvorhersehbare Ereignisse sind einer der wesentlichen Einflussfaktoren für die Anpassung oder Nichteinhaltung von Versprechen während der Regierungszeit. Versprechen werden zu einem bestimmten Zeitpunkt gemacht – Wahlversprechen kurz vor, Koalitionsversprechen kurz nach der Wahl. Im Laufe der vierjährigen Amtszeit einer Regierung kann sich aber viel verändern. Unvorhergesehene Ereignisse verändern Prioritäten, schränken den politischen Handlungsspielraum ein oder erweitern ihn – und manchmal auch alles zugleich. Ihre direkten oder indirekten Folgen können zur Nichteinhaltung oder auch zur Beschleunigung der Erfüllung von Versprechen führen. Ein sehr prägnanter Fall aus der jüngeren Vergangenheit ist die Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 und die anschließende Entscheidung der damaligen Bundesregierung den gerade beschlossenen Ausstieg vom Atomausstieg wieder rückgängig zu machen.
Relevant für das Ausmaß der Auswirkungen des jeweiligen Ereignisses auf die Versprechenserfüllung sind sowohl die mannigfaltigen Eigenschaften des Ereignisses selbst und seiner Folgen als auch der nationale und globale Kontext. Zudem ist der relative Zeitpunkt des Stattfindens des Ereignisses innerhalb der Legislaturperiode von Relevanz, weil es hinsichtlich der aktiven Gestaltung oder Pfadabhängigkeiten einen Unterschied macht, ob sich etwas am Anfang, in der Mitte oder am Ende einer solchen Periode ereignet: die meisten Wahl- und Koalitionsversprechen werden so oder so zu Beginn der Regierungszeit umgesetzt.
Mit Voranschreiten der Regierungszeit nimmt die Erfüllungsrate ab. Die Corona-Pandemie, die sicherlich ein vergleichsweise großes unvorhergesehenes Ereignis darstellt, hat – wie wir im Schlussteil des Buches auch kurz anreißen – beispielsweise nicht dazu geführt, dass die Erfüllungsquote der Versprechen der damaligen Großen Koalition sehr gelitten hat: die Endbilanz war eine Erfüllungsrate von 80 Prozent. Dafür maßgeblich war, dass sie in einem Umfeld von nationaler wirtschaftlicher Prosperität und erst kurz vor Beginn des letzten Drittels der Regierungszeit stattgefunden hat. Beim Ukraine-Krieg, der zu Beginn einer neuen Legislaturperiode in vulnerablerer wirtschaftlicher Umgebung mit anhaltendem Corona-Kontext stattfindet, sind die Folgen.
Welche Versprechen des Koalitionsvertrages werden nach der »Zeitenwende-Rede« von Olaf Scholz im Bundestag noch realisierbar sein? In welchen Bereichen wird es voraussichtlich zu Einschränkungen kommen?
Die Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers betrifft vordergründig die zusätzliche Bereitstellung von 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr. Das ist ein Titel, der nicht in die normale Haushaltsrechnung des Bundes einbezogen wird. Wie sich dies mittel- und langfristig auswirkt, ist im Moment schwer abzusehen. Unabhängig von den zusätzlichen Mitteln für die Bundeswehr ist die finanzielle Situation – und damit auch die Spielräume für die Politik – durch die Kosten in Verbindung mit der Corona-Pandemie für den laufenden Bundeshaushalt bereits sehr angespannt. Nach eigener Aussage des Finanzministeriums werden die Kosten für medizinisches Material, Konjunkturprogramme und Hilfszahlungen für 2020 und 2021 auf etwa 475 Mrd. Euro für den Bund beziffert und weitere 765,5 Mrd. Euro staatliche Garantien kämen gegebenenfalls noch hinzu, wenn sie fällig würden. Dies passiert nun alles in einer Situation, in der aufgrund der wirtschaftlichen Lage nicht unbedingt mit riesigen Steuermehreinnahmen zu rechnen ist.
Der Koalitionsvertrag ist hinsichtlich der Finanzierung der vereinbarten Ziele sehr unbestimmt und einen Bundeshaushalt für 2022 gibt es noch nicht. Das Kabinett hat einen Ergänzungshaushalt zum noch zu verabschiedenden Bundeshaushalt beschlossen, der das Entlastungspaket II für die Bürger*innen enthält sowie Mittel für Hilfen für Geflüchtete und Unterstützung für Unternehmen im Zusammenhang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine. Im BMF-Monatsbericht heißt es zur Haushaltsplanung lediglich, dass es einen Energie- und Klimafonds geben wird, dessen Programmausgaben sich bis 2026 auf 200 Mrd. Euro belaufen soll. Ferner wird für das Bundesministerium für Verteidigung für 2022 jenseits der 100 Mrd. € Sondervermögen für die Bundeswehr ein Rekordhaushalt von 50 Mrd. geplant. Zu den Wohnungsbauplänen von 100.000 Sozialwohnungen und zur Digitalisierung einschließlich Glasfaserausbau sowie zur Rentenpolitik ist noch nicht viel bekannt. Kurzum, es wird mit Sicherheit nicht alles gehen, was angezielt ist. Was am Ende hinten runterfällt, ist allerdings genauso unbestimmt wie der derzeitige Bundeshaushalt.
Was bedeutet es für die Regierung, wenn sie sich nicht an ihren Koalitionsvertrag halten kann? Sowohl mit Blick auf die Wähler*innen als auch für interne Koalitionsdynamiken?
Das sind zwei wichtige, aber voneinander getrennt zu betrachtende Punkte. Für den Repräsentationsprozess ist es von elementarer Bedeutung, dass die Delegationskette von den Einstellungen der Wähler*innen über die Parteien bis zu den politischen Entscheidungen gut funktioniert. Deswegen schauen wir uns in unserem Buch auch an, wie gut die Übersetzung von Wahlversprechen in im Koalitionsvertrag festgehaltene Regierungsversprechen bei der Ampelkoalition funktioniert hat. Ein Abweichen von diesen Versprechen sollte nicht leichtfertig passieren. Allerdings ist es auch politische Realität, dass es nicht immer zu einer Eins-zu-eins-Übersetzung kommt. Die in Deutschland in der Regel regierenden Koalitionsregierungen müssen Kompromisse eingehen: kein Koalitionspartner kann davon ausgehen, all seine Wahlversprechen im Koalitionsvertrag zu verankern oder am Ende in politische Entscheidungen zu übersetzen. Bis zu einem gewissen Grad ist es erwartbar und auch wünschenswert, dass Regierungsparteien ihre ursprünglichen Wahlversprechen nicht einhalten. Beim Koalitionsvertrag sieht das etwas anders aus. Wir wissen aus empirischen Studien, dass die letzten beiden Regierungen einen Großteil ihrer Koalitionsversprechen (um die 80%) auch tatsächlich umgesetzt haben.
Eine zentrale Frage, die sich daraus ableitet, lautet: Wie gehen die Wähler*innen damit um, wenn Wahl- oder Regierungsversprechen nicht umgesetzt werden? Wir wissen aus der Forschung, dass Wahrnehmung und Bewertung sich hier nicht immer mit der Realität decken. Nach Wahrnehmung der Wähler*innen werden deutlich weniger Versprechen umgesetzt, als es in Wirklichkeit sind. Das könnte unter anderem auch an unterschiedlichen Bewertungen der Wichtigkeit bestimmter Versprechen liegen. Nicht jedes Versprechen ist jedem*jeder Wähler*in gleich wichtig. Entsprechend kann das Nicht-Einhalten eines bestimmten Versprechens für eine Person deutlich stärker ins Gewicht fallen, als mehrere eingehaltene, aber für die Person irrelevante Versprechen. Hier lohnt wieder der Blick auf das Beispiel Atomausstieg Fukushima und Atomausstieg. Auch wenn die Regierung vorher etwas anderes versprochen hatte, wurde ihr dieser »Versprechensbruch« von den wenigsten negativ ausgelegt, da er die neue Position der Bundesregierung im Einklang mit der Mehrheitsmeinung in der deutschen Bevölkerung war.
Eine ähnliche Situation erleben wir zurzeit auch in Deutschland. Viele Glaubenssätze und Positionen, die lange als veraltet gegolten haben, werden überdacht und neu justiert. In einer solchen Situation würde es der Regierung vermutlich eher negativ ausgelegt, wenn sie sich zu starr an ihren Koalitionsvertrag halten würde. Das heißt allerdings nicht, dass die Regierung damit vollkommen aus der Verantwortung genommen ist, den Koalitionsvertrag umzusetzen, der schließlich ein breites Spektrum an Themen und Problemen abdeckt, die unsere Gesellschaft ganz allgemein beschäftigen, etwa im Bereich der Verkehrs- oder Bildungspolitik. Es ist wichtig, die Menschen mitzunehmen und Veränderungen zu erklären. Sonst droht sich das bereits vorhandene Misstrauen noch zu verstärken – der Glaube daran, dass Parteien ihre Versprechen brechen, ist auch unabhängig von akuten Krisensituation bereits tief in der Gesellschaft verankert.
Eine etwas andere Situation ergibt sich mit Blick auf die internen Koalitionsdynamiken. Wir zeigen in unserem Buch, dass der Koalitionsvertrag ein sehr genau abgewogener Kompromiss zwischen den drei Regierungsparteien ist. Sollte durch die neue Situation vor allem Regierungsversprechen im Koalitionsvertrag in Frage gestellt werden, die nur einer der drei Parteien am Herzen liegen und somit sorgsam erkämpfte Kompromisse aufweichen, dann könnte das zu Streitigkeiten und gar Blockaden in der Koalition führen. Dass sich die Ampelkoalitionäre aber bisher bemühen, so eine Situation zu vermeiden, kann man zum Beispiel am zweiten Entlastungspaket sehen, das sehr deutlich Präferenzen aller drei Koalitionspartner aufnimmt. Dennoch stellen viele der nun zu treffenden Entscheidungen Herausforderungen für die Parteien dar und nicht immer wird der Spagat zwischen den eigenen Wahlversprechen und den Regierungsentscheidungen einfach sein, siehe zum Beispiel FDP und Schuldenbremse.

Pola Lehmann / Theres Matthieß / Sven Regel / Bernhard Weßels
Die Ampelkoalition ↗
Wie wird aus unterschiedlichen Zielen ein gemeinsames Regierungsprogramm?
Nach der Bundestagswahl 2021 kam es in Deutschland zum ersten Mal seit den 1950er-Jahren zu einer Drei-Parteien-Koalition. Was bedeutet das für die politische Repräsentation der Wähler*innen? Und wie wurden die Wahlversprechen in das Regierungsprogramm übersetzt? Die Autor*innen gehen diesen Fragen sowohl allgemein als auch für vier zentrale Politikfelder (Verkehrswende, Bildungsgerechtigkeit, Familie und Beruf, Digitalisierung in der Gesundheitspolitik) nach. Sie untersuchen, was vor den Wahlen versprochen wurde, wie dies Eingang in die Sondierungsgespräche fand und unter welchen Reibungsverlusten es schließlich im Koalitionsvertrag steht.