
Bernd Kortmann / Günther G. Schulze (Hg.)
Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft
Wie sieht die Welt nach Corona aus? Was bleibt von der Krise? Führende Wissenschaftler*innen aus Geistes-, Sozial-, Natur- und Lebenswissenschaften geben Antworten und Orientierung.
Religion – Kirche – Philosophie
Stets befinden sich einschneidende Ereignisse wie Pandemien auch im Spannungsfeld von Religion und Philosophie – diese bieten Bewältigungsstrategien, Deutungsmuster und moralische Orientierung.
Was hat Sakpata, Gott der Pocken, verehrt vom westafrikanischen Volk der Ewe, mit den Oberammergauer Passionsspielen gemeinsam, die erstmals 1634 inmitten einer Pestepidemie im 30-jährigen Krieg stattfanden? Beide zeigen, so die Ethnologin und Religionswissenschaftlerin Birgit Meyer, wie Religion ein wichtiges gesellschaftliches Verarbeitungs- und Bewältigungsinstrument für Gesellschaften in ganz unterschiedlichen Kulturkreisen sein kann. Gleichzeitig sind Religionen auch »Bewahrplätze der Erinnerung an vergangene Pandemien« und »des Umgangs von Menschen mit Leiden und Krankheit« und sollten daher als Bereiche »tiefen Wissens über Götter und die Welt« verstanden und genutzt werden.
Gleichzeitig konstatiert Magnus Striet in seinem Beitrag jedoch ein »merkwürdiges Schweigen« der Kirchen und der wissenschaftlichen Theologie seit Beginn der Pandemie, wenn es darum ging (und geht) theologische Deutungsmuster anzubieten – und nicht einfach nur Solidaritäts- und Zuversichtsappelle. Der Fundamentaltheologe betreibt Ursachenforschung, diskutiert verschiedene Optionen für Deutungsangebote und formuliert Vorschläge für eine Theologie und die Kirchen nach Corona.
Auch aus einem philosophischen Blickwinkel tun sich in Folge der Corona-Krise neue Perspektiven auf. Der Philosoph Markus Gabriel setzt sich kritisch mit der durch den »virologischen Imperativ« der Corona-Krise ausgelösten Schieflage auseinander, »der uns auffordert, alles individuell und kollektiv Mögliche um beinahe jeden Preis anzustrengen, um die virale Pandemie zu bewältigen« und dabei »alle anderen Gesichtspunkte weitgehend eliminiert«. Diese kritische Analyse dient ihm als Blaupause der positiven Zukunftsvision einer »post-coronialen Ordnung« (mit Corona), die bestimmt ist von der Einsicht, dass Problemkomplexe wie Klimawandel, Rassismus, Rechtspopulismus, Fake News oder unkontrollierte Digitalisierung dringend einer fokussierten, ethisch-moralisch verantwortlichen Bearbeitung bedürfen. »Moralischer Fortschritt ist möglich!«, so die Botschaft Gabriels. Dieser »besteht […] darin, dass moralische Tatsachen, die partiell verdeckt waren, auch für diejenigen sichtbar werden, die direkt oder indirekt davon profitierten, sie im Verborgenen zu halten.«
Die Komplexität der Wirklichkeit und die damit einhergehende unzureichende Information und eingeschränkte Rationalität als Grundbedingung politischen Handelns, so der Philosoph und Wissenschaftsjournalist Gerd Scobel, ist in dieser Krise deutlich zutage getreten; sie stiftet Verwirrung und erfordert von den Entscheidungsträgern hohe moralische Verantwortung und eine gut geschulte politische Urteilskraft in Form sinnvoller Heuristiken. Aus dieser Erkenntnis leitet Scobel sieben spannende Thesen insbesondere zur Rolle der Digitalisierung, der Erkenntnis und des Nichtwissens und der Ausrichtung der Forschung in der Zukunft ab.
Politik – Wirtschaft – Staat
Den durch die Corona-Krise ausgelösten schwersten Wirtschaftseinbruch seit Bestehen der Bundesrepublik nimmt der ›Wirtschaftsweise‹ Lars Feld zum Anlass, die erforderlichen Rahmenbedingungen für eine baldige und anhaltende Überwindung des schweren Produktivitätsschocks in Deutschland und der EU (speziell der Euro-Staaten) in Zeiten eines wachsenden internationalen Protektionismus und zunehmender Handelskonflikte zu skizzieren. Dabei diskutiert und bewertet er bewährte wie neue finanz- und wirtschaftspolitische Instrumente (z.B. temporäre Verstaatlichungen) und Faktoren (u.a. Digitalisierung, Gesundheitswesen, klimapolitisch ausgelöste Innovationen). Als die entscheidenden Schlüssel zum Erfolg betrachtet der Ökonom internationale Offenheit, Wettbewerbsfähigkeit und finanzpolitische Solidität.
Bernd Fitzenberger richtet seinen Blick als Arbeitsmarktökonom auf die mittelfristige Entwicklung des deutschen Arbeitsmarkts in Folge der Corona-Pandemie (z.B. die unterschiedliche Betroffenheit von Branchen), auf von der Krise angeschobene neue Entwicklungen und auf durch die Krise sichtbar(er) gemachte Probleme des deutschen Arbeitsmarkts, die schon vorher bestanden. Äußerst bedenkenswert sind die Aussagen des Direktors des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, seine Befürchtungen und Empfehlungen hinsichtlich abfedernder Maßnahmen auf dem Ausbildungsmarkt und angesichts der unbestreitbar stärkeren Betroffenheit von Frauen in der Lockdown-Phase sowie in den von der Pandemie ausgelösten Transformationsprozessen.
Der Historiker Jörn Leonhardt vergleicht die spanische Grippe und die Corona-Pandemie und skizziert Parallelen und erhebliche kontextuelle Differenzen. Er beschreibt die Agglomeration von paradoxen Konstellationen in der Corona-Pandemie, die für Krisen nicht untypisch sind. Dabei ist das Nebeneinander von globalen und lokalen Antwortversuchen auf die Pandemie vielleicht die augenfälligste, Globalität und Lokalität stehen in einem mehrdimensionalen Spannungsverhältnis.
In der Corona-Krise mussten und müssen vor allem in der Politik eine Vielzahl von Entscheidungen binnen kürzester Zeit gefällt werden, die auf mehr oder weniger unsicheren Prognosen beruh(t)en. Der frischgebackene Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle unterstreicht die Unausweichlichkeit dieser Art von Situation und führt aus, warum die Bevölkerung lernen muss, mit dieser Art von Unsicherheit und Nichtwissen souverän, sprich rational, umzugehen – dieses aber auch guten Gewissens tun kann. Dazu gehört ganz wesentlich das Vertrauen in eine rationale, ihre Entscheidungen immer wieder selbst überprüfende politische Führung, die ihrerseits demokratisch legitimiert ist und deren Entscheidungen jeder Zeit auf ihre Verfassungs- und Rechtmäßigkeit hin überprüft werden können. Gleichzeitig warnt der Staatsrechtler vor naiver Wissenschaftsgläubigkeit und einem Primat des Expertentums vor dem der gewählten Volksvertreterinnen und Volksvertreter.
Wissenschaft, Erkenntnis und ihre Kommunikation
Jahrzehnte an Erfahrung mit naturwissenschaftlicher und interdisziplinärer Forschung lassen den Pharmazeuten und Präsidenten des Schweizer Wissenschaftsrats Gert Folkers an das Erfordernis des Zweifel(n)s »an Hypothesen, Schlüssen, Daten und Messungen« als unerlässlichen Teil des Erkenntnisprozesses erinnern. Er führt dies an zahlreichen Beispielen der Corona-Kommunikation und -Berichterstattung in den internationalen Medien vor, darunter die Fragwürdigkeit, zumindest die Unwägbarkeiten, so mancher »Evidenz«, »Fakten« und »Faktenchecks«. Grundsätzlich plädiert Folkers dafür, bei aller Notwendigkeit für die Zahlenbasiertheit von Entscheidungen (was ausdrücklich nicht als Ausschließlichkeit zu interpretieren ist) und ihrer Vermittlung in die Öffentlichkeit, die Grundlagen für diese Zahlen, ihre Zuordnung und Interpretation zu hinterfragen.
Der Amerikanist Michael Butter bündelt in zehn griffigen Thesen alles, was man in Politik und Gesellschaft unbedingt über Verschwörungstheorien wissen sollte – inklusive eines Vergleichs der Situation in Deutschland mit der (deutlich besorgniserregenderen) in den USA. Corona-spezifisch ist daran wenig, vielmehr greifen auch bei den Verschwörungstheorien, die u.a. die »Hygienedemos« befeuern, die gleichen Mechanismen wie in der Vergangenheit. Man muss sie dennoch ernst nehmen, darf sie aber gleichzeitig – dies die besonders an die Medien und die Politik gerichtete Warnung Butters – nicht überhöhen, geschweige denn sich von ihnen in Panik versetzen lassen.
Die Informatikerin und Vorsitzende des Wissenschaftsrats Dorothea Wagner befasst sich mit dem Corona-bedingten Digitalisierungsschub im Wissenschaftsbetrieb (sprich: in Lehre, Forschung und Gremien), seinen Erfordernissen sowie seinen mittel- bis langfristigen Chancen, aber durchaus auch Risiken. Wie in weiten Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft werden wir zunehmend mit hybriden Formaten (teils in Präsenz, teils virtuell) leben müssen, nach den Erfahrungen der vergangenen Monate wahrscheinlich sogar durchaus wollen. Der Digitalisierungsschub muss allerdings nachhaltig sein, heißt: er darf keine Überführung von Notbehelfen aus der Corona-Zeit in den Dauerbetrieb, also schlicht kein Sparmodell sein.
Aus kulturwissenschaftlicher Sicht nähern sich Eva von Contzen und Julika Griem der Art und Weise, wie die Öffentlichkeit besonders in den Monaten der »ersten Welle« und des Lockdowns über die Corona-Situation informiert wurde. Sie beleuchten dabei speziell die Rolle, die Listen, Tabellen und Kurven – mit ihren bei näherem Hinsehen eben häufig nur scheinbar klaren, neutral-objektiven und abgesicherten Informationen – bei der Entwicklung von Pandemie-Narrativen und als Instrumente politischer Krisenkommunikation (Stichwort: flatten the curve) in der Politik und den Medien spielten. Ihre Analysen verdeutlichen auch die grundsätzlichen Risiken, die mit der stark reduzierten Übersetzung wissenschaftlichen Wissens mittels Statistiken für die politischen Entscheidungsträger*innen und eine breite Öffentlichkeit einhergehen.