
Bernd Kortmann / Günther G. Schulze (Hg.)
Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft
Wie sieht die Welt nach Corona aus? Was bleibt von der Krise? Führende Wissenschaftler*innen aus Geistes-, Sozial-, Natur- und Lebenswissenschaften geben Antworten und Orientierung.
Alltag mit und nach Corona
Unter der Frage, welche Konsequenzen die Pandemie für unser tägliches Leben hat, werden psychologische und philosophische Standpunkte zu verschiedenen Facetten unseres neuen Alltagslebens bezogen.
Dies beginnt bereits bei Praktiken wie dem Handschlag, der für Psychoanalytiker Carl-Eduard Scheidt als Metapher für Kommunikation und Interaktion von Angesicht zu Angesicht eine große Rolle spielt. Auf welche sozialen Kosten müssen wir uns einstellen, wenn wir bei Gesprächs-, Gruppen- oder Tagungsterminen zunehmend von physischer Präsenz auf virtuelle Präsenz via Videokonferenzen umstellen? Risikominimierung via Digitalisierung – um welchen psychobiologischen Preis?
Genauso stellt sich die Frage nach dem Alltag verschiedener Personengruppen – so etwa der Kinder. Der Kinder- und Jugendpsychiater Kai von Klitzing plädiert angesichts der Vorrangstellung von Wirtschaft und Risikogruppen für eine stärkere Berücksichtigung der zukünftigen Generation und fragt nach der Zukunftsträchtigkeit der bisherigen Handlungsdevise, im Zweifel lieber das Leben der Kinder einzuschränken als Risiken einzugehen.
Nicht zuletzt wird auch ein Licht auf die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie geworfen – kritisch und stets mit Blick auf die Zukunft. Historikerin Ute Frevert macht die zunehmenden emotionalen und verhaltenspraktischen Risse in Gesellschaft und Politik zum Thema, die ihrer Meinung nach in einen »Corona-Blues« münden werden und eine Rückkehr zum gesellschaftlichen Normalzustand andeuten.
Die Corona-bedingte Spaltung der Gesellschaft in systemrelevante Berufsgruppen und solche, die es nicht sind, mit der letztlich auch eng eine Geschlechter- und Klassenfrage verbunden ist, führt den Philosophen Dieter Thomä zu einer kritischen Analyse der die über viele Wochen die Medien, Plakat- und Anzeigenkampagnen bestimmenden Heldenrhetorik und fragwürdigen Heroisierungsinflation. Denn alles, was positiv zu werten ist an der durchaus ehrlich gemeinten Feier und Würdigung der Corona- als Alltagshelden, speziell die geradezu »demokratische Verschiebung im Diskurs über Heroisierung«, verliert sofort an Glaubwürdigkeit, wenn diese nicht »mit einer nachhaltigen Veränderung der Wertschätzung derer einhergeht, die in unserer Gesellschaft lebensnotwendige Aufgaben erfüllen.«
Schließlich nimmt das vielschichtige persönliche Corona-Kaleidoskop der Philosophin Sybille Krämer sich der Konjunkturen des Rechthabens an.
Das Virus im Fokus
Die Mikrobiologin Bärbel Friedrich beantwortet jene Frage, die Millionen Menschen beschäftigt: Verschwindet das Corona-Virus oder müssen wir mit ihm weiterleben? Für sie deuten alle Zeichen auf Koexistenz. Trotz des internationalen Sturms an Forschungsaktivitäten, der Turbo-Entwicklungen (teilweise sogar schon Zulassungen) von besseren und schnelleren Testverfahren und vor allem Impfstoffen in einzelnen Ländern ist Skepsis geboten, wenn man weiß, wie lange normalerweise die sorgfältige Erforschung der Verträglichkeit und komplexen Immunantwort auf Impfstoffe gegen neue Infektionskrankheiten dauert.
Auf die Impfstoffentwicklung legt auch Sozialanthropologin Shalini Randeria ihren Fokus und widmet sich den entscheidenden Fragen zum aktuellen Wettrennen bei der Suche nach Corona-Impfstoffen, deren letztendliche Beantwortung in den kommenden Monaten und Jahren weitreichende Konsequenzen haben wird: Corona-Impfstoffentwicklung als ein Instrument im nationalistisch, fast schon kaltkriegerisch geprägten geopolitischen Wettbewerb (vornehmlich, aber nicht nur, zwischen China und den USA)? Als Geldmaschine für Big Pharma? Oder aber – und hierfür plädiert Randeria ganz entschieden – Corona-Impfstoffe als ein globales Gemeingut, mit öffentlichen Geldern entwickelt und hergestellt, verfügbar, zugänglich und erschwinglich für die gesamte Menschheit?
Der Pandemiespezialist Karl-Heinz Leven kommt zu dem ernüchternden Schluss, dass selbst wenn ein wirksamer Impfstoff gegen dieses vergleichsweise milde Virus gefunden wird, es eine Illusion sei zu glauben, damit seien die wichtigsten Probleme gelöst und es könne eine Rückkehr zum »Normalzustand« geben. Aus medizinhistorischer Sicht beleuchtet er in einem Parforceritt von der Antike bis in die Gegenwart die Frage, was an der Corona-Pandemie des Jahres 2020 in Bezug auf vorherrschende Erklärungsmuster (framing) und ergriffene Maßnahmen wirklich neu und was eher (und teilweise schon sehr lange) vertraut ist.
Mit einem Impfstoff sind damit die wichtigsten Probleme keineswegs gelöst: Diese liegen auch in unserem Gesundheitssystem. So skizziert Bettina Pfleiderer, ehemalige Präsidentin des Weltärztinnenbundes, in ihrem Beitrag mit Blick auf die geschlechtsspezifischen Ausprägungen der Corona-Erkrankungen und die Zunahme häuslicher Gewalt, inwiefern sich dieses System in einer Post-Corona-Welt ändern muss.
Die (Nach-)Corona-Gesellschaft
Die Pandemie hat die gesellschaftliche Verwundbarkeit einmal mehr offengelegt: Was kann die Post-Corona-Gesellschaft daraus lernen?
Wie hat sich die Bewältigung der Vergänglichkeit in Zeiten von Corona verändert? Die Soziologin und Sozialpsychologin Vera King beschreibt, wie der »ewige Aufbruch«, also der Versuch, durch Beschleunigung, Selbstoptimierung und Adaption des Neuen der Begrenztheit der Zeit zu entfliehen, durch Corona Risse bekommen hat. Die schon fast manisch jugendlichen Alten sind durch Corona nicht nur deutlich gefährdeter, sie sind auch auf die Solidarität der Jungen im physischen Sinne angewiesen. Die Illusion des individualisierten ewigen Aufbruchs verliert an Strahlkraft. Dies eröffnet die Möglichkeit eines neuen Miteinander der Generationen.
Die Krise hat gezeigt, wie abhängig wir voneinander sind – die Gesellschaft muss das im politischen und ökonomischen Miteinander in Rechnung stellen. Die politische Philosophin Lisa Herzog zeigt diese vielfältigen Abhängigkeiten der Menschen von der Arbeit, aber auch von dem Wissen ihrer Mitmenschen auf, die uns in dieser Krise besonders deutlich vor Augen geführt wurden. Aus einer arbeitsteiligen Produktionsweise und Wissensgeneration leitet sie die Forderung nach epistemischer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher wie politischer Teilhabe aller ab.
Bis zum Einbruch der Corona-Krise dominierte in der globalisierten Welt »ein Beherrschbarkeits-Narrativ«. Marina und Herfried Münkler widmen sich daher der Kernfrage, wie man sich zukünftig nun besser auf das Unvorhersehbare vorbereiten kann. Es beginnt für sie bei einer disziplinübergreifenden Kooperation zwischen Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften, bei einem gemeinsamen »Nachdenken über eine neue Zuständigkeitsverteilung zwischen Planung und Strategie, Zukunftsberechnung und Prognose, Risikoanalyse und Ungewissheitstoleranz«. Gerade in Zeiten der Unsicherheit komme zudem einer kompetenten Wissenschaftskommunikation eine »herausragende Bedeutung« zu. Im Bereich der internationalen Politik bedarf es der Entwicklung intelligenter Abwehr-(inklusive Grenz-)regime in Vorbereitung auf zukünftige Pandemien.
Soll das Nachdenken über die Welt jenseits von Corona unter dem Motto »zurück zum Glück« stehen? Alle Zeichen also auf Reparatur oder sogar Restauration? Auf gar keinen Fall! Vielmehr muss es um »ein grundlegendes Nach-, Neu- und Umdenken« gehen in Bezug auf Grundprinzipien unseres künftigen Verhaltens und Zusammenlebens einerseits und »systemisch und strukturell klug konfigurierte Pläne für eine Post-Corona-Gesellschaft« andererseits, in deren Zentrum »eine nachhaltig wirksame Umwelt-, Klima- und Sozialpolitik« stehen muss. Wilhelm Krull benennt Grundzüge und Leitplanken für ein solch entschlossenes Nach-Vorne-Denken, die von dem Erfordernis eines Wertewandels und einer deutlich stärkeren Gemeinwohlorientierung geprägt sein müssen.