Katharina Block

Katharina Block

ist Juniorprofessorin für Sozialtheorie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sowie assoziierte Forscherin am Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin.

Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozialtheorie, Gesellschaftstheorie, Philosophische Anthropologie, Phänomenologie, Soziologie der Ökologisierung und Soziologie der Digitalisierung.

Cover Die Corona-Gesellschaft

Dieser Text ist die Kurzfassung eines Beitrags aus der Buchpublikation »Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft«, herausgegeben von Michael Volkmer und Karin Werner, die im Juli 2020 erschienen ist.

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Ein grundlegendes Versprechen der Moderne war die Etablierung eines spezifischen Selbst- und Weltverhältnisses durch uns wohlbekannte Prozesse wie Säkularisierung, Individualisierung und Rationalisierung. Prozesse, die getragen sind von fundamentalen Freisetzungsversprechen, einem unbändigen Fortschrittsdenken, einer vernunftbasierten Weltaneignung sowie einer Hoffnung auf die szientifische Eroberung der Natur. Heute, in der Spätmoderne, ist das autonome Ich dementsprechend (fast) alles, was wir an Selbsterfahrung haben. Das Leben spannt sich zwischen einem umfangreichen Verhandlungs-, Revisions- und Suchprozess auf, in dem die Einzelne Urheberin ihres Lebens und die Verfügungsgewalt über das eigene Leben rechtlich abgesichert ist. Dieser im Prozess der Modernisierung gewachsene Erfahrungstyp, so kann zugespitzt werden, kumulierte insgesamt in einer Haltung des grenzenlosen Verfügen-Könnens über sich und die Welt.

Dass diese Haltung stets irritiert werden kann und auch an Grenzen stößt, wird in Krisenzeiten immer wieder deutlich. Der Haltung selbst schien das bislang allerdings kaum Abbruch zu tun. Selbst die nahende Klimakatastrophe oder die im Zusammenhang mit ESKAPE-Erregern (multiresistente Keime) bestehende Gefahr eines »präantibiotischen Zeitalters« (Akademie der Wissenschaften in Hamburg & Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina 2013) – beides mit unabsehbaren Folgen –, konnten in diese Haltung kaum bis gar nicht intervenieren. Aber warum nicht? Weil sie zu abstrakt, leiblich noch kaum spürbar sind. Ihre Drohung löst in uns noch keine wirkliche Angst vor den Folgen aus. Das Hereinbrechen der Corona-Pandemie scheint dies zu ändern. Dabei ist es nicht das Virus selbst, das in uns die Angst auslöst, vielmehr sind es die mit der Pandemie einhergehenden unabsehbaren Folgen, über die wir nicht verfügen können, die uns spürbar bedrohen und das Virus unheimlich werden lassen. Die Corona-Pandemie ist ein Phänomen des Unverfügbaren. Denn es konfrontiert uns mit akuten Erfahrungen des Unverfügbaren, die bewährten Orientierungen ihre Wirksamkeit nehmen und so die Routine unserer Handlungsfähigkeit unterminieren. Wir wissen nicht, wie diesem Unverfügbaren begegnet werden soll, als mit den üblichen Mitteln. Die Welt aber entzieht sich dennoch dem bewährten Zugriff und erschüttert die Haltung des Verfügen-Könnens zutiefst. Der Pakt, den wir mit einer garantierten Wirklichkeit geschlossen hatten, scheint im Angesicht der Krise, in der die Moderne längst entwickelt und der spätmoderne Erfahrungstyp voll entfaltet ist, auf dem Spiel zu stehen. Erfahrungen des Unverfügbaren brechen gerade mit ungewohnter Kraft über uns herein. Und wir erfahren sie deswegen als problematisch, weil sie nun direkt auf den spätmodernen Erfahrungstyp bezogen sind: Wo das freie Individuum keine Grundeinheit von Vergesellschaftungsprozessen ist, kann es selbst auch nicht zum Problem werden. Wo sich die Vorstellungen von Selbst- und Weltverfügung aber durchgesetzt haben, können Erfahrungen des Unverfügbaren hingegen als existenziell bedrohlich erlebt werden. Es handelt sich hier also um Erfahrungen, die unsere tief internalisierten Selbstverständlichkeiten der Selbst- und Weltbestimmung nicht nur erschüttern, sondern unmittelbar bedrohen. Das Ereignis der aktuellen Corona-Pandemie konfrontiert uns mit einer spezifischen Qualität des Unverfügbaren, durch die sich Erfahrungen des Unverfügbarseins von Welt in den Vordergrund drängen und die Garantien einer gefügig gemachten Wirklichkeit aufheben.

Zugleich aber bergen sie auch das Potenzial zum schöpferischen Griff (Helmuth Plessner), das vage Hoffnungen auf neue Praktiken und Lebensformen antreibt. Entsprechend notwendig wird es, zu fragen, was angemessene soziale Praxen sein können, um auf solche Phänomene des Unverfügbaren, als das sich die Corona-Pandemie offenbart, auch jenseits etablierter Verfügungsmechanismen zukünftig antworten zu können. Nicht, dass etablierte Mechanismen gar nicht greifen würden. Dennoch bietet die Pandemie zugleich die Gelegenheit Neues zu wagen. Das ist also kein Appell im Sinne eines Zurück zu einer transzendentalen Wahrheit oder zu Gott oder Ähnlichem, sondern schlicht eine diesseitig mögliche Konsequenz, wenn die Grenzen der anthropozentrischen Macht ganz materiell zutage treten. Es soll hier auch keiner Ablehnung der Errungenschaften moderner Gesellschaften das Wort geredet werden. Es gilt aber nun, von ihren Grenzen zu erzählen. Jede Entwicklung hat ihre Grenzen, die Frage ist nur, auf welche Weise man sie überschreiten wird. Die Moderne könnte im Angesicht der Corona-Krise in wichtigen Aspekten scheitern – in Auseinandersetzung mit ihrem Scheitern könnte sie uns aber auch Auswege zeigen. Auswege, die sich im Zuge einer Antwortsuche als neue Wege offenbaren. Diese Einsicht nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch relevant werden zu lassen, dafür könnten Erfahrungen des Unverfügbaren in der Tat eine neue Schlüsselfunktion haben, schließlich fordert uns das Unverfügbare gerade ganz konkret heraus.