Auszug aus dem Buch

Ausgangspunkt dieser Arbeit ist die These, dass mit dem Veggie-Boom ein gesellschaftlicher Konflikt im Bereich der Ernährung offenbar wird. Sie ist verbunden mit der Frage, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen vegane Ernährung im Laufe der letzten Jahre ein fester Bestandteil gegenwärtiger Ernährungskulturen geworden ist. Die vorliegende Studie legt eine soziologische Perspektive auf ernährungskulturelle Machtkämpfe um Lebensmittel, Körper und Geschlecht vor. Die zentrale sozialtheoretische These ist, dass Lebensmittel, Körper und Geschlecht in unterschiedlichen ernährungsbezogenen Wissenspraxen multiple und gesellschaftlich umkämpfte materielle Realitäten sind. Die empirische Analyse eröffnet mit diesem Zuschnitt einen Einblick in die sozialen Bedingungen, unter denen vegane Ernährung und Lebensmittel gesellschaftliche Relevanz und die Bewertung als gute und richtige Ernährung erlangen.
Die Ausgangsbeobachtung, dass die Konstruktion von Männlichkeiten ein wesentlicher Faktor für die Frage des Fleischkonsums oder -verzichts ist, wird in Richtung einer Vergeschlechtlichung des Nährstoffs Protein und der Reproduktion eines auf muskulärer Stärke aufbauenden Männlichkeitsideals spezifiziert, das so mit veganer Ernährung verknüpft wird. Vegane Ernährungsstile sind damit kompatibel mit den hegemonialen Diskursen neoliberaler Gesundheitsregime und mit auf muskulärer Stärke basierenden Männlichkeitskonstruktionen. Andererseits wird mit dem Flexitarismus eine Ernährungsform erschaffen, die auf Flexibilität und Kompatibilität mit den Anforderungen gegenwärtiger Ernährungskulturen ausgerichtet ist.

Martin Winter

Ernährungskulturen und Geschlecht
Fleisch, Veganismus und die Konstruktion von Männlichkeiten

»Die Soziologie hat den Bereich der Ernährung und des Essens lange vernachlässigt, daher ist diese Veröffentlichung Teil einer Entwicklung, dieses Thema in der Disziplin zu etablieren. Aber auch für die Ernährungswissenschaften wird die Perspektive auf soziale und kulturelle Aspekte von Ernährung immer bedeutender. Das Thema nimmt in vielen Bereichen der Forschung zunehmend ›Fahrt auf‹.«

Martin Winter

Männlichkeiten im Ernährungswandel

Die Verbindung von Fleisch mit Männlichkeit hat sich im Zusammenhang mit einer institutionalisierten Zuweisung von Männern an die Produktionssphäre und die damit verbundene Anforderung an die körperliche Stärke etabliert und über einen langen Zeitraum gehalten. Der männliche Körper materialisiert sich gegenwärtig aber nicht mehr primär qua Arbeitsteilungsarrangement und der vergeschlechtlichten Lebensmittelzuweisung, nach der »das größte Stück vom Braten« dem Mann und »Ernährer« zustehe. Diese Verschiebung lässt sich mit der Beobachtung aus der Männlichkeitenforschung zusammenbringen, dass der männliche Körper »zu einer (Gestaltungs-)Aufgabe« wird. Das bedeutet, dass die Geschlechterdifferenz und mit ihr die männliche Dominanz nicht mehr primär durch die arbeitsteiligen Geschlechterarrangements hergestellt und abgesichert wird, sondern dass diese zunehmend individualisiert am jeweiligen Körper festgemacht werden muss. Daher gewinnt eine Wissenspraxis und damit verbundene Materialisierung von Lebensmitteln an Boden, die glaubwürdig dieser Gestaltungsaufgabe gewachsen ist.

In der Männlichkeitenforschung werden die Folgen eines sich wandelnden Arbeitssektors und der Auflösung des »Normalarbeitsverhältnisses« dahingehend diskutiert, dass sich auch hegemoniale Männlichkeit stärker in Richtung einer »flexiblen Männlichkeit« wandelt. Eine solche Männlichkeit ist an die gültigen Anforderungen angepasst und kann die jeweiligen Ernährungsfelder ›flexibel‹ bespielen. Traditionelle Männlichkeit mit und durch Fleischkonsum, aber auch die auf Gesundheit und insbesondere Fitness gerichtete vegane Variante ist gleichzeitig und je nach sozialer Anforderung im Repertoire der flexiblen Männlichkeit enthalten. Der flexitarische Mann ist damit die ernährungskulturelle Ausprägung der »flexiblen Männlichkeit«. Ein zentrales Kennzeichen ist das Bespielen und Überbrücken der differenten Materialisierungen: Mit dieser Männlichkeit kann zugleich die symbolische Dominanz über die Natur durch Fleischkonsum sowie die symbolische und materielle Demonstration der Herstellung eines fitten Körpers durch Reduktion des Fleischkonsums durch Sicherstellung der Proteinversorgung durch alternative Proteinquellen inszeniert werden.



Ausgewählte Titel aus der Reihe Human-Animal-Studies

Tobias Leenaert

Der Weg zur veganen Welt
Ein pragmatischer Leitfaden

»Ein großartiges Buch – nach dem Motto: Hör auf, perfekt sein zu wollen und fange lieber an, die Welt zu verändern.«

Rutger Bregman

Vera Zimmermann

Grenzenlos menschlich?
Tierethische Positionen bei Elias Canetti, Marlen Haushofer und Brigitte Kronauer

»Die Frage, wie wir menschlichen Tiere mit unseren nichtmenschlichen Mitgeschöpfen umgehen, ist in Zeiten globaler Pandemien, wachsender Märkte für Fleischprodukte weltweit und allen damit einhergehenden Problemen äußerst aktuell. Elias Canetti, Marlen Haushofer und Brigitte Kronauer zeigen in ihren Werken nicht nur, dass nichtmenschlichen Tieren ein Eigenwert zukommt, sondern auch, weshalb es sich lohnt, diesen zu berücksichtigen.«

Vera Zimmermann

Daniel Wawrzyniak

Tierwohl und Tierethik
Empirische und moralphilosophische Perspektiven

»Das umfassende Werk bietet interdisziplinären Stoff für den kritischkonstruktiven wissenschaftlichen Dialog.«

Veg-Info

Jocelyne Porcher / Jean Estebanez (eds.)

Animal Labor
A New Perspective on Human-Animal Relations

»At a time when more-than-human ontologies are on many disciplines agendas, »Animal Labor« is a thought-provoking volume that forges a path for a reconceptualization of human-animal interrelations and demonstrates that analyzing working animals is also one way to learn about ourselves as humans.«

Hélène B. Ducros, www.europenowjournal.org

Birgit Spengler / Babette B. Tischleder (eds.)

An Eclectic Bestiary
Encounters in a More-than-Human World

The essays, poetry, and visual art collected here consider the more-than-human cultures of our multispecies world. At a time when humanity’s impact has put our planet’s ecosystems into great jeopardy, the book explores literary, sonic, and visual imaginaries that feature encounters between and across a variety of living creatures: beetles and bisons, people and pigeons, trees and spiderwebs, vegetables and violets, orchards and octopi, vampires and tricksters. Offering a wide range of critical and creative contributions to Human Animal Studies, Critical Plant Studies and the Nonhuman Turn, the volume seeks to foster new ways of imagining a more »response-able« coexistence on our shared Earth.