Nach Angaben des Statistischen Bundesamts lebten Stand 2019 rund 10,4 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland – 7,9 Millionen davon sind schwerbehindert, sprich: haben einen von den Versorgungsämtern zuerkannten Grad der Behinderung von mindestens 50.
Auch wenn es sich prozentual gerechnet bei den meisten um Fälle körperlicher Behinderungen handelt, ist nicht jede auf den ersten Blick ersichtlich; viele sind objektiv kaum bis gar nicht zu erkennen.
Trotz des unermüdlichen Engagements verschiedener Institutionen und Verbände und auch mehr als zehn Jahre nach Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention weist die Politik in diversen Bereichen noch erhebliche Defizite auf. Erst im Oktober 2021 stellte das Institut für Menschenrechte fest, dass »der Paradigmenwechsel von der Politik der Fürsorge zur Politik der Inklusion und Selbstbestimmung immer noch nicht vollständig vollzogen« sei.
Als besonders mangelhaft wird die Integration Behinderter auf dem ersten Arbeitsmarkt sowie die Umsetzung von Inklusion im Bildungsbereich bewertet. Einen weiteren wichtigen Diskussionspunkt stellt die Beschäftigung in Behindertenwerkstätten dar – die dort Beschäftigten erhalten nicht den Mindestlohn und sind als nicht-reguläre Arbeitnehmer*innen vom ersten Arbeitsmarkt und den damit einhergehenden Rechten abgekoppelt. Ohnehin ist die Erwerbslosenquote unter Behinderten mit rund 43 % signifikant höher als unter Nicht-Behinderten (etwa 18 %), was unter anderem damit zusammenhängen kann, dass mit knapp 16 % viermal so viele Behinderte keinen allgemeinen Schulabschluss erworben haben als Nicht-Behinderte.
Weitere Informationen zur Situation behinderter Menschen in Deutschland und weltweit sowie eine Erläuterung der Disability Pride Flag, die im Titelbild zu diesem Beitrag zu sehen ist, empfehlen wir unseren Beitrag aus dem Disability Pride Month Juli ↗.
Wissenschaft allein setzt keine politischen Forderungen durch – doch Beiträge der Disability Studies können ein Fundament legen, das Betroffene empowert, sich ihrer Diskriminierung bewusst zu sein und für ihre Rechte einzustehen, und Nicht-Betroffene über die Dringlichkeit des Themas Inklusion und die zentrale Bedeutung behinderter Menschen für eine vielfältige Gesellschaft aufklärt. Nur durch Diskurse mit Betroffenen statt Entscheidungen über, aber ohne sie können Unterschiede und soziale Ungerechtigkeiten identifiziert und Grenzen aufgeweicht werden.
Zum heutigen Anlass präsentieren wir eine große Bandbreite an Titeln mit Bezug zu Disability und Inklusion: aus den letzten Jahren, den kommenden Monaten, aber auch – in Form von Standardwerken, die als optimale Einführungsliteratur fungieren – den Anfängen des Forschungsfeldes.
Nadine Glade / Christiane Schnell (Hg.)
Perfekte Körper, perfektes Leben? ↗
Selbstoptimierung aus der Perspektive von Geschlecht und Behinderung
Selbstoptimierung ist allgegenwärtig: Körper und Gesundheit gelten ebenso wie Beziehungen, Elternschaft und Karriere längst als Bereiche, die von Individuen aktiv gestaltet und verändert werden müssen, um den gesellschaftlichen Schönheits- und Leistungsnormen zu entsprechen. Der Band versammelt Beiträge von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, welche die vielfältigen und teils widersprüchlichen Facetten des Phänomens Selbstoptimierung aus der Perspektive von Geschlecht und Behinderung ausloten. An Themen wie Reproduktionstechnologien und Mutterschaft oder Körpergestaltung durch Sport und Ernährung diskutieren sie gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse innerhalb derer bestimmte Körper und Lebensentwürfe idealisiert oder abgewertet werden.
Religion und Disability ↗
Behinderung und Befähigung in religiösen Kontexten. Eine religionswissenschaftliche Untersuchung
Eine systematische und empirisch fundierte Zusammenführung von Religionswissenschaft und Disability Studies.
»Eine sehr spannende Abhandlung darüber, welche Rolle Religion dabei spielt, Behinderung überhaupt herzustellen (also jemanden als behindert zu kategorisieren, wenn er/sie nicht den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht) und inwieweit Religion auch durch Behinderung beeinflusst und gestaltet wird.«
Raul Krauthausen, Newsletter Die Neue Norm, 09.02.2022
Sozialkapital intersektional ↗
Eine empirische Untersuchung an der Schnittstelle Behinderung und Migration
Beziehungen können wesentlich zum persönlichen und beruflichen Lebenserfolg von Jugendlichen und jungen Erwachsenen beitragen. Mit einem Fokus auf der Schnittstelle von Behinderung und Migration fragt Chantal Hinni, wie es jungen Menschen gelingt, gemeinschaftliche Werte und Normen in ihr Leben zu integrieren und Beziehungen zu gestalten, die ihnen als Sozialkapital nützlich sind. Sie beleuchtet die bildungssoziologische Frage nach gesellschaftlichen Verteilungsprinzipien im Analyserahmen der Intersektionalität und überführt diese theoretisch und empirisch fundiert in die Anwendung der latenten Klassenanalyse.
The Invention of ›Outsider Art‹ ↗
Experiencing Practices of Othering in Contemporary Art Worlds in the UK
What does it mean to be called an ›Outsider‹? Marion Scherr investigates structural inequalities and the myth of the Other in Western art history, examining the role of ›Outsider Art‹ in contemporary art worlds in the UK. By shifting the focus from art world professionals to those labelled ›Outsider Artists‹, she counteracts one-sided representations of them being otherworldly, raw, and uninfluenced. Instead, the artists are introduced as multi-faceted individuals in constant exchange with their social environment, employing diverse strategies in dealing with their exclusion. The book reframes their voices and artworks as complex, serious and meaningful cultural contributions, and challenges their attested Otherness in favour of a more inclusive, all-encompassing understanding of art.
Theresia Degener / Marc von Miquel (Hg.)
Aufbrüche und Barrieren ↗
Behindertenpolitik und Behindertenrecht in Deutschland und Europa seit den 1970er-Jahren
Kann die Behindertenpolitik als Erfolgsgeschichte gelten? Der Band dokumentiert eine widersprüchliche Entwicklung mit neuen Aufbrüchen und fortwirkenden Barrieren.
»Disability Studies haben im deutschsprachigen Raum bis heute einen subversiven Status. Das Buch tritt dagegen für ein interdisziplinäres Gespräch zwischen Disability Studies, Rechts-, Sozial- und Geschichtswissenschaften ein und zielt auf ein historisch fundiertes Verständnis der Theorien inklusiver Gleichheit und menschenrechtsbasierter Selbstbestimmung.«
Die Herausgeber*innen
Cordula Nolte (Hg.)
Dis/ability History Goes Public – Praktiken und Perspektiven der Wissensvermittlung ↗
Experimentell erprobte Anleitungen zur Wissenskommunikation für die Vermittlung von Dis/ability-Forschung in Schulen, Universitäten und Museen.
»Zunehmend werden Maßnahmen ergriffen, um die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 zu verwirklichen, der fächerübergreifende wissenschaftliche Ansatz Dis/ability History setzt sich durch, und Public History boomt. Es ist an der Zeit, diese Prozesse zu verbinden, das heißt inklusive, partizipative Wissenschaftskommunikation im Themenfeld Dis/ability zu erproben.«
Cordula Nolte
Gehörlose und Hörende ↗
Raummodellierung im Kontext von Behinderung und Interkulturalität
Neue Perspektiven auf das Zusammenspiel von Behinderung und Interkulturalität im Kontext von Gehörlosigkeit.
»Jeden Tag erleben wir Interaktionen, die geprägt sind von Machtstrukturen, Differenzen und Diversität. Was Gehörlose und Hörende angeht, so sind die Einflussfaktoren des Miteinanders dermaßen fest ineinander verhakt, dass keine Klarheit besteht. Wenn die Hintergründe und Absichten aller Akteure an Klarheit gewinnen, können wir die Schlucht der Angsträume überwinden, die uns bislang trennt, und in der Anerkennung von Unterschieden zusammen einen gesellschaftlichen Mehrwert abbilden.«
Caroline-Sophie Pilling
Behinderung als Praxis ↗
Biographische Zugänge zu Lebensentwürfen von Menschen mit ›geistiger Behinderung‹
Wie wird »Geistige Behinderung« zur sozialen Realität? Eine Analyse anhand von dokumentierten Lebensläufen.
»Eine äußerst gelungene Arbeit, die mit der machtkritischen Betrachtung der Praktiken des Bereichs Wohnen in der Behindertenhilfe sehr anschaulich und empirisch fundiert herausarbeitet, wie ›geistige Behinderung‹ institutionell (re-)produziert wird.«
Tobias Buchner, Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften, 40/2 (2018)
Arbeit und Behinderung ↗
Praktiken der Subjektivierung in Werkstätten und Inklusionsbetrieben
Im Anschluss an die soziologischen Disability Studies werden kreative Praktiken von Menschen mit Lernschwierigkeiten vorgestellt, mit denen sie den Herausforderungen von Verbesonderung und Inklusion am Arbeitsplatz begegnen.
»Für die Disability Studies und die Debatten um Inklusion in Arbeit habe ich zeigen können, dass das Leistungsprinzip als Anrufung allgegenwärtig und durchdringend ist. Auch Menschen mit Lernschwierigkeiten sind sich dieser Anforderung bewusst. Einerseits versuchen sie, ihr zu genügen; andererseits schaffen sie es, wenn auch nicht immer explizit, Kritik daran zu üben. Von ihnen kann man viel über unsere gegenwärtige Arbeitskultur lernen, wenn man ihnen zuhört.«
Sarah Karim
Was ist Behinderung? ↗
Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen vom Mittelalter bis zur Postmoderne
Der Behinderungsbegriff spiegelt die menschliche Vielfalt nicht adäquat wider, sondern transportiert das Bild einer scheinbar homogenen Menschengruppe. Eine Studie über Abwertungs- und Ausgrenzungsprozesse von Menschen mit Funktionseinschränkungen im geschichtlichen Verlauf.
»Mit seinem ebenso historisch informierten wie theoretisch ambitionierten Blick auf Behinderung leistet Egen im deutschsprachigen Raum Pionierarbeit.
Raphael Rössel, Soziopolis, 17.12.2020
Egens Buch ist ein wertvoller und elegant verfasster Beitrag zur Theoretisierung der historischen Regelhaftigkeiten von Behinderungsprozessen.«
Ein Ausblick auf unsere Nova: Was uns 2023 erwartet
Gebärdensprachdolmetschen als Beruf ↗
Professionalisierung als Grenzziehungarbeit. Eine historische Fallstudie in Österreich
Die Verberuflichung des Gebärdesprachdolmetschens ist ein kontingenter, fortdauernder und kompetitiver Prozess, bei dem Grenzziehungsarbeit eine zentrale Rolle spielt. Nadja Grbic rekonstruiert in ihrer theoretisch fundierten Untersuchung dessen Entwicklung in Österreich seit dem 19. Jahrhundert, zeigt institutionelle Bedingungen der Professionalisierung auf und gibt Einsichten in Wahrnehmungsmuster, Handlungslogiken und Entscheidungsprozesse der Akteur*innen. Damit entwirft sie einen alternativen Erklärungsrahmen zu Fortschrittsmodellen, der über den Fall von Gehörlosigkeit hinaus eine differenzierte Betrachtung der Vielgestaltigkeit translatorischer Tätigkeiten ermöglicht.
Birgit Lütje-Klose / Elke Wild / Julia Gorges / Phillip Neumann / Sandra Grüter / Antonia Weber / Janka Goldan (Hg.)
Kooperation an inklusiven Schulen ↗
Ein Praxishandbuch zur Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams und mit Eltern
Schulische Inklusion kann nur durch tragfähige Kooperation gelingen. Das Bielefelder Fortbildungskonzept zur Kooperation in inklusiven Schulen (BiFoKi) zeigt, wie die Bereiche teaminterne und multiprofessionelle Zusammenarbeit sowie Familie-Schule-Kooperation optimiert und miteinander in Verbindung gebracht werden können. Die Beiträger*innen des Praxishandbuchs bieten Grundlagen für die eigenständige Durchführung von umfassenden Fortbildungen, die mit Hilfe umfangreicher Online-Materialien auch in einzelne Module geteilt werden können.
Körperlicher Umbruch ↗
Über das Erleben chronischer Krankheit und spät erworbener Behinderung
Was bedeutet es in den westlichen Gesellschaften der Jahrtausendwende, chronisch krank zu werden oder dauerhaft mit einer Behinderung zu leben? Ausgehend von subjektiven Erfahrungen Betroffener wirft Bernhard Richarz den Blick auf das somatische Geschehen, dessen prozesshafte individuelle psychische Verarbeitung und die soziokulturellen Rahmenbedingungen. Er leitet chronische Krankheit und Behinderung aus einer Phänomenologie des Körpers ab und ordnet die subjektive Darstellung des Erlebens in den Prozess der Identitätsarbeit ein. Damit eröffnet er den Blick auf das Zusammenwirken von Körper, Selbst und Alterität im Kontext der Persönlichkeitsentwicklung.
Friederike Schmidt / Hanna Weinbach (Hg.)
Vorsorge und Ungleichheiten in pandemischen Zeiten ↗
Geschichten – Rationalitäten
Die COVID-19-Pandemie und die Bemühungen zu ihrer Eindämmung wirken stark auf Ungleichheits- und Sorgeverhältnisse ein. Wie aber unterscheiden sich die Möglichkeiten, sich vor einer Infektion mit dem Virus und einer schweren Erkrankung zu schützen? Welchen Logiken folgen Präventionsmaßnahmen und welche Konsequenzen haben sie? Mit den Klammern »Geschichten« und »Rationalitäten« untersuchen die interdisziplinären Beiträger*innen das pandemische Geschehen und damit verbundene Präventionsmaßnahmen. Mit ihrer Berücksichtigung von subjektiven Narrationen und historischen Reflexionen sowie der Fokussierung auf Fragen zur politischen Steuerung machen sie Ambivalenzen und Spannungen sichtbar.
Linda Leskau / Sigrid Nieberle (Hg.)
Wiedersehen mit Heidi ↗
Polyperspektivische Lektüren der Heidi-Romane von Johanna Spyri
Johanna Spyris Heidi-Romane von 1880/1881 zählen zweifellos zum Kanon der westlichen Kinder- und Jugendliteratur. Sie wurden in ca. 50 Sprachen übersetzt und für zahlreiche Medienformate wie Spielfilm, TV-Serie/Anime, Comic und Audio Book adaptiert. Um ihrer großen Popularität auf die Spur zu kommen, befragen die Beiträger*innen die Romane auf ihre Aktualität hin und interpretieren sie unter Gesichtspunkten der Diversity Studies neu. Was können wir zu Kindheit und Alter, Naturbegriff und Tierhaltung, Bildung und Verwandtschaft, zur Bedingtheit von Behinderung und zum Verhältnis von gender, race und class heute daraus lernen?
Pflichtlektüre: Diese Standardwerke vermitteln fundamentales Knowledge über Behinderung & Inklusion
Behinderung, Ungleichheit und Bildung ↗
Eine Theorie der Behinderung
Die politischen Erfolge der Behindertenbewegung, die Überarbeitung der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die zunehmende Etablierung der Integrationspädagogik haben ein neues Verständnis von Behinderung etabliert: Behindert ist man nicht, behindert wird man.
Aufgrund seiner breiten Orientierung ist der Band als Einführungstext in die Disability Studies geeignet.
»Weniger ist oft mehr. Auf nur knapp 100 Seiten hat Jan Weisser einen faszinierenden differenztheoretischen Entwurf vorgelegt, der die Sonderpädagogik auf theoretischem Terrain neu positioniert.
Sven Sauter, Erziehungswissenschaftliche Revue, 5 (2006)
Dieser überaus gelungenen und inspirierenden Einführung in die Denkweisen und in die Theoriepolitik der Disability Studies ist eine umfangreiche Leserschaft zu wünschen, die sich nachhaltig irritieren lässt.«

Anne Waldschmidt / Werner Schneider (Hg.)
Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung ↗
Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld
»Im Horizont gesellschaftlicher Entwicklungen will die Buchreihe ›Disability Studies‹ zur Erforschung zentraler Themen der Moderne beitragen: Vernunft, Menschenwürde, Gleichheit, Autonomie und Solidarität. […] Dieses anspruchsvolle Programm wird mit dem vorliegenden Sammelband voll und ganz eingeholt.«
Sven Sauter, Erziehungswissenschaftliche Revue, 7/4 (2008)