Die Kunst der Dekolonisierung

Das Ziel der kolonialen Bildung war die Interpellation einer westlich gebildeten Klasse der Kolonisierten, die als Verbindung zwischen den europäischen Kolonialherren und den kolonisierten Subjekten fungieren sollten. Dies sollte eine Klassenallianz zwischen den Eliten der einheimischen Bevölkerung und der Kolonisatoren etablieren. Das Ziel der englischen Bildung in Indien, wie in den berüchtigten Protokollen zur indischen Bildung von Thomas Babington Macaulay von 1835 skizziert, war es »eine Klasse von Personen zu schaffen, die indisch in Blut und Farbe war, aber englisch im Geschmack, in Meinungen, Moral und Intellekt«. Aus der Kraft der Aufklärung schöpfend, bestand die Inspiration darin, die Suche nach Wahrheit und Vernunft auch in ›unzivilisierten‹ Gesellschaften zu fördern. Gleichzeitig existierten Bedenken, dass der Kontakt mit europäischer Literatur und Dichtung der ›ungezähmten‹ Imagination der Einheimischen Nahrung geben und so ein antikoloniales Sentiment aufstacheln könnte. Wie Gauri Viswanathan aufzeigt, »führte die Tatsache, dass gebildete Inder Goethe im Original lasen, zu viel mehr Besorgnis in britischen Verwaltungskreisen als ihr Lesen der Werke politischer Liberaler wie Locke und Hume, deren Appell an die Vernunft und Verfassungsmäßigkeit anstatt an die Imagination wohl weniger Gefahr für das Entstehen eines vereinten nationalistischen Sentiments bedeutete«. Interessanterweise stellte romantische Dichtung eine Bedrohung dar, die Widerstand und Revolutionen zu inspirieren in der Lage war, während die politische Philosophie versprach, die Einheimischen in die kolonialen Episteme der Moderne einzuführen. Viswanathan bemerkt, dass der englische Bildungsstil anstatt von »modernisierenden« Effekten, die zu einer Überwindung der Kastenpolitik hätten führen können, ironischerweise zu einer Konsolidierung der sozialen Kasten führte.

Neokolonialismus und die Ökonomisierung des Denkens

Der koloniale Gestus, die Subjektivitäten der Kolonisierten in den Epistemen der Moderne zu formen, wurde wiederholt in späteren Bildungsansätzen verfolgt, welche das neokoloniale Subjekt produzieren wollten, das nach dem Empfang einer westlichen Bildung zum Projekt der Modernisierung in postkolonialen Gesellschaften und Nationen beitragen würde.

Die Ökonomisierung der Universitäten und Hochschulen impliziert eine Instrumentalisierung der Wissenschaft, wobei das Denken eine Ware und Sprache eine Zelebrierung der Ware wird. Einhergehend mit einem Rückgang der Urteilsfähigkeit, wird kritisches Denken als »altmodischer Luxus« oft geradezu abgelehnt. Es wird gegen die Standards von Effizienz und Nützlichkeit gemessen, anstatt sich Möglichkeiten zu überlegen, anders in der Welt zu sein. Wissen wird zu einem Mittel den Status Quo aufrechtzuerhalten, wodurch die kritische und oppositionelle Funktion der Imagination aufgegeben wird, anstatt ihr zu erlauben, eine weite Reichweite zu entwickeln und sich das noch nicht Existierende vorzustellen.

Um diesen Prozessen entgegenzuwirken, setzt Spivak ihre Hoffnung auf eine ästhetische Erziehung, die »die wiederholte Konstruktion des kolonialen Subjekts« in der Ära der Globalisierung sabotieren kann. Gegen die utilitaristischen Erfordernisse des globalen Kapitalismus, verändert die Ästhetik für sie wie wir denken, wodurch wir verändern was wir wissen und folglich was wir wollen. Mit diesem Ziel im Blick muss wirtschaftliche Freiheit und politischen Emanzipation für subalterne Klassen neu kodiert werden vom Zugang zum Finanzkapital hin zu einer Art von Bildung, die Subalterne als »Problemlöser« produziert anstatt sie als Problem zu sehen, das gelöst werden muss.

Sabotage der Aufklärung

Anstatt europäisches Denken aufzugeben, schlägt Spivak eine Sabotage der Aufklärung vor, durch die wir »lernen, die europäische Aufklärung von unten zu benutzen […] was den double bind der postkolonialen und großstädtischen Migrant:innen bezüglich der Aufklärung gut trifft. Wir wollen die Errungenschaften der öffentlichen Sphäre und die Restriktionen der Privatsphäre der Aufklärung; aber wir müssen ebenfalls etwas finden, was sich auf ›unsere eigene Geschichte‹ bezieht, um der Tatsache entgegenzuwirken, dass die Aufklärung durch den Kolonialismus ebenso zu Kolonisierenden wie Kolonisierten kam […]. Dies unterscheidet unsere Bemühungen, von den besten der modernen europäischen Versuche, die europäische Aufklärung kritisch zu verwenden, mit denen wir genug Sympathie haben, um sie zu unterwandern«.

Im Gegensatz zur europäischen Kritik an der Aufklärung, die postkoloniale Positionen inspiriert hat, orientieren sich Letztere an den Bemühungen die Aufklärung zu »miss-(ge)brauchen« (ab-use), das heißt »von unten gebrauchen«. Das ist keine Position der Minderwertigkeit oder Abwertung, sondern eine Position, die den double bind der postkolonialen Welt gegenüber der europäischen Aufklärung verkörpert. Anders als die europäische kritische Tradition, die sich von der Aufklärung und ihrem Erbe zu distanzieren sucht, besteht der postkoloniale Ansatz, wie Spivak erklärt, aus einer »kritischen Intimität«, wobei die Anstrengung darin besteht, sie von innen zu verändern. Spivak warnt des Weiteren davor, dass »Miss-(ge)brauch« (ab-use) ein irreführender Neographismus sein kann, der einfach als »Missbrauch« (abuse) falsch gelesen werden kann. Ein weiterer signifikanter Aspekt der postkolonialen Kritik ist der Fokus auf Subjekte, denen das ermöglichende Erbe der Aufklärung vorenthalten worden ist. Spivaks »affirmative Sabotage« der Aufklärung versucht nicht sie zu boykottieren oder zu lähmen, sondern die Werkzeuge der Dominanz dazu zu verwenden, ihre Ziele zu unterwandern. Dies würde dem Zweck dienen, diese ermöglichenden Werkzeuge den subalternen Klassen zur Verfügung zu stellen, ihnen die Möglichkeit zu geben intellektuelle Arbeit auszuführen und sie so in die Hegemonie einzufügen. Damit würde außerdem die Beziehung zwischen der Elite und den (vergeschlechtlichten) Subalternen rekonfiguriert, sodass Letztere nicht mehr einfach Wissensobjekte oder Subjekte im Stil einheimischer Informant:innen (native informants) sind, die auf herablassende Weise für unfähig gehalten werden, epistemologische Leistungen zu erbringen. Vom »Subjekt der Krise« werden Subalterne in die »Logik der Handlungsfähigkeit« eingeschlossen.

Spivak erklärt, dass ihr Ziel als geisteswissenschaftliche Lehrerin ist, »Intuitionen der Demokratie« zu fördern in »Bürger:innen, die subalternisiert worden sind«, indem ihnen der Zugang zum Staat verweigert worden ist. Sie benutzt die »Konzeptmetapher eines Dirigenten einer musikalischen Darbietung, wie in europäischen Musikdarbietungen«, um ihre Arbeit zu beschreiben. Ihre Verantwortung gegenüber dem Text eines Anderen ist wie »die des Dirigenten – als Repräsentant der Rhetorik des Texts der Anderen, sodass wir Leiter:innen ihrer Darbietung werden können durch eine andere Gruppe von Darbietenden, für eine andere sich wandelnde Gruppe, das zuhörende Publikum«. Sie behauptet, dass eine ästhetische Erziehung, die viel mehr ist als ein zweckgebundenes Curriculum oder eine effektive Pädagogik, die Klassenapartheit aufbricht und so Subalterne als Staatsbürger:innen produziert.

Für Spivak geht es bei Bildung um die »Veränderung der Einstellungen« der Entrechteten mit dem Ziel demokratische Gewohnheiten und Reflexe zu entwickeln, nicht im Sinne von Formeln wie man ein:e gute:r Bürger:in sein kann, dier gesetzestreu ist, sondern durch die Produktion von Bürger:innen, die des kritischen Denkens mächtig sind. Sie erklärt wie die Vorbereitung subalterner Subjekte für »epistemologische Performanz« aktive Bürger:innen erzeugt, die an einem demokratischen Prozess teilhaben, der über die formalen Prozesse der Wahl einer Gruppe von Repräsentanten hinausgeht. Dies bringt uns zurück zu Spivaks Fokus auf die Bedeutung der Imagination, welche ihrer Meinung nach trainiert werden muss, damit die oder der Subalterne sich als Teil einer abstrakten Entität des Demos sieht, in dem jede:r Bürger:in gleich ist ungeachtet von Differenzen hinsichtlich von Klasse, Gender, Sexualität, Alter, Herkunft oder Religion. In einer Demokratie, egal on man der reichste Bürger im Land ist oder die ärmste, hat jede:r eine Stimme, nicht mehr und nicht weniger. Trotz Differenzen ist jede:r formell gleich. Um diese abstrakte Idee der Gleichheit zu verstehen und zu reflektieren, muss man Bildung als mehr verstehen als Messung der Kompetenzerweiterung (impact assessment), effektives Lehren, Werkzeugkisten für Nichtregierungsorganisationen und Wissensmanagement. Spivak warnt, dass den Kindern etwas vorzutragen (talking at children), was ein Großteil der Mainstream-Pädagogik tut, wie »Schreiben auf weichem Zement« ist. Schlechte Bildung zerstört den Geist, wodurch die Subalternen ihres Verweigerungsrechts beraubt werden. Um grundlegende »Denkgewohnheiten neu anzuordnen« könnte die Ästhetik nach Spivak als wirkmächtiges Werkzeug verwendet werden, um in die »Anordnung von Begehren« einzugreifen. Spivak ist sich natürlich bewusst, wie die Ästhetik manipuliert werden kann, um dominante Ideologien von Kapitalismus, Nationalismus und Patriarchat zu propagieren, sodass das Erhabene Kants ein ambivalenter Schauplatz der Verhandlung ist. Für Spivak ist Ideologiekritik implizit in einer ästhetischen Erziehung.



Mehr im Band:

María do Mar Castro Varela / Leila Haghighat (Hg.)

Double Bind postkolonial
Kritische Perspektiven auf Kunst und Kulturelle Bildung

Theoretische Grundlagen und alternative Handlungsmöglichkeiten für explizit postkolonial informierte Praxen in Kunst und Kultureller Bildung.

»Museumseinrichtungen müssen im postdigitalen Zeitalter viele althergebrachte Selbstverständnisse überwinden und an einem neuen institutionellen Selbstverständnis arbeiten.«

Die Herausgeberinnen