Am 20. Juni 2020 fand ein bundesweiter Aktionstag der ›Recht auf Stadt‹-Bewegung statt, der in Frankfurt unter dem Motto ›Eine Stadt für alle! – Aktionstag‹ stand. Ein breites Bündnis aus Gruppen und Initiativen hat den Kampf für eine andere Stadt auf die Straße getragen: Es ging dabei um Wohnungspolitik und Mieter*innenschutz, um Ökologie und Klimagerechtigkeit, migrantische und antirassistische Kämpfe, Hochschulpolitik und solidarische Stadtteilbezüge.
Uns ist jedoch aufgefallen, dass keine explizit queeren und feministischen Gruppen Teil des Bündnisses geworden sind und keine (queer-)feministischen Forderungen aufgestellt wurden.
Sorgebeziehungen und Reproduktionsarbeit sind ein großer Teil des Alltags in der Stadt. Im Zuge neoliberaler Politik verschlechtern sich die Rahmenbedingungen hierfür seit einiger Zeit. Die Arbeitsbelastung für viele, insbesondere für Frauen*, steigt. Die Verantwortung für das Sorgetragen wird individualisiert, obwohl die Bedingungen sozialer Reproduktion politisch sind.
Wie kann die feministische ›Stadt für alle!‹ eingefordert, greifbar und realisiert werden?
Johanna Betz / Svenja Keitzel / Jürgen Schardt / Sebastian Schipper / Sara Schmitt Pacífico / Felix Wiegand (Hg.)
Frankfurt am Main – eine Stadt für alle?
Konfliktfelder, Orte und soziale Kämpfe
Prozesse der Stadtentwicklung sind immer auch von sozialen Kämpfen begleitet. Die Beitragenden des Bandes beleuchten aus Perspektive der Wissenschaft, sozialer Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Initiativen aktuelle Konfliktfelder in der Global City Frankfurt am Main und diskutieren in anschaulichen Formaten, welche strukturellen Bedingungen, gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und machtvollen Akteure die Mainmetropole prägen. Sie analysieren, wie neoliberale und autoritäre Tendenzen soziale Ausschlüsse produzieren. Durch den Fokus auf die vielfältigen Kämpfe werden zugleich Wege für eine solidarische und demokratische Stadt für alle aufgezeigt.
Konturen einer feministischen ›Stadt für alle!‹
Leslie Kerns kürzlich erschienenes Buch »Feminist City« (2020) handelt eindrücklich von den Potenzialen und Grenzen eines feministischen ›Rechts auf Stadt‹. Ganz konkret geht es ihr um eine nicht-sexistische Stadt – um eine barrierefreie Stadt ohne Angsträume, in der tägliche Anforderungen gemeinsam bestritten werden können und das kollektive Zusammenleben funktioniert. Es sind die räumliche Nähe und die Zentralität der Stadt, die ein Leben in Gemeinschaft eröffnen.
Allerdings erzeugt das Leben in der Stadt nicht automatisch Kollektivität, sondern kann auch Vereinzelung bedeuten. Dies wird sichtbar an gegenwärtigen Wohnformen, an den höchstens auf Familien beschränkten Sorgebeziehungen und am Essen, das vorwiegend am eigenen Küchentisch stattfindet. Kern geht noch weiter und zeigt patriarchale Aspekte des städtischen Raums auf, indem sie auf verschiedene Körper und deren alltägliche Bewegung im (Stadt-)Raum hinweist. Hindernisse, Benachteiligungen und Gefahren zeigen, dass die Stadt nach weiß-männlichen, nicht körperlich beeinträchtigten, heteronormativen Bedürfnissen ausgerichtet ist. Aus ihrer intersektionalen Perspektive macht Kern deutlich, dass all jene, die von dieser Norm abweichen, entlang mehrfacher Achsen der Unterdrückung im Erleben ihrer Städte eingeschränkt sind.
Unsere gebaute Umwelt ist durchaus auf den Erhalt bestehender Verhältnisse von Geschlecht, Rassifizierung, Klasse oder Sexualität ausgerichtet. Es geht darum, unsere Arbeitsorganisation oder allgemeiner unsere Beziehungsweisen kollektiver zu gestalten und davon ausgehend darüber nachzudenken, wie gebaute Umwelt diesen entgegensteht.
Wir gehen davon aus, dass eine Neugestaltung des Alltags bei den Sorgebeziehungen ansetzen sollte – und dass diese in der ›Recht auf Stadt‹-Bewegung ebenfalls zentraler Bestandteil der Idee einer ›Stadt für alle!‹ sein müssen. Die Bedingungen der (Selbst-)Sorge, des Essens, des Schlafens etc. sind politisch!
Für uns ist es von zentraler Bedeutung, die Gesamtheit von Arbeit und solidarischen Beziehungsweisen zu thematisieren. In Frankfurt am Main tun dies aktuell das F*Streik-Bündnis, aber auch die ada kantine.
Kollektive Reproduktion — Perspektiven aus Frankfurt am Main
F*Streik-Bündnis in Frankfurt
Das F*Streik-Bündnis in Frankfurt hat sich 2018 gegründet und am 8. März 2019 das erste Mal zum Streik aufgerufen.
Ein zentrales Ziel ist, die normalisierte, aber ungerechte und individualisierte Aufteilung von Reproduktionsarbeit zu politisieren. Reproduktionsarbeit soll stattdessen in solidarischen Strukturen gesamtgesellschaftlich gerecht verteilt werden. Politische Inhalte des Streiks sind außerdem Alltagssexismus und sexualisierte Gewalt, der Kampf für körperliche Selbstbestimmung und gegen Körpernormen.
Mit dem Slogan »Wenn wir streiken, steht die Welt still« werden Straßen besetzt, verlängerte Mittagspausen gemacht, mit Töpfen aus den Fenstern der Wohnungen geklappert und Demonstrationen veranstaltet.
Welche Anknüpfungspunkte würden sich ergeben, wenn Sorgebeziehungen als zentrales Element für gesellschaftliche Transformation – auch in der Stadt – betrachtet werden? Aus der Perspektive der alltäglichen Organisation von Care sollten wir das Wohnen selbst queeren. Mit ›queeren‹ meinen wir, Heteronormativität aktiv zu verlernen. Das heißt, zum Beispiel Grundrisse komplett anders zu denken: nicht ausgehend vom ›Zwei-Eltern-zwei-Kinder-Familienmodell‹, sondern ausgehend von der Nutzung durch Wahlfamilien und größerem kollektiven Wohnen. Auch bezüglich des städtischen Raums gibt es wichtige Themen wie die Notwendigkeit von mehr öffentlich zugänglichen Toiletten für unterschiedliche Bedürfnisse. Dahinter stehen grundlegende Fragen danach, für welche Körper der öffentliche Raum konzipiert und gebaut ist und wie Differenz und die Anerkennung von Unterschiedlichkeiten auch hier möglich sein kann.
Die ada kantine
Die ada kantine auf dem alten Unicampus Bockenheim, eine solidarische Stadtteilkantine in der leerstehenden Akademie der Arbeit, zeugt von der ersehnten Verbindung feministischer Alternativen mit dem ›Recht auf Stadt‹.
In der ada kantine bekommen alle Menschen an drei Tagen der Woche Drei-Gänge-Menüs mit Service am Tisch – auf Spendenbasis. Ein Kern von Aktivist*innen wird durch einen Kreis von Unterstützer*innen ergänzt, die im laufenden Betrieb Schichten übernehmen. Einiges an Arbeit wird bisher nicht in Strukturen und Absprachen abgebildet und bleibt unsichtbar. Ein feministischer Anspruch an politische Praxis erinnert daran, auch diese Arbeiten sichtbar zu machen.
Gestaltet von der Kunstgruppe andpartnersincrime wirkt die ada kantine wie ein liebevoll gestaltetes Café. Existenzielle Grundbedürfnisse werden hier ohne Konsumzwang befriedigt. Das ist schon unter ›normalen‹ Bedingungen für viele Menschen in Frankfurt nicht selbstverständlich. Während der Corona-Pandemie sind viele dann vollends durch soziale Versorgungssysteme gefallen. Die Offenheit und willkommen heißende Atmosphäre der ada kantine schafft einen Rahmen, in dem sich sehr unterschiedliche Menschen und Lebensrealitäten begegnen können.
Ein feministisches Frankfurt für alle – Brücken schlagen, Kämpfe verbinden
Das Wie des Kämpfens berührt die Frage, wie unterstützend persönliche Beziehungen und Solidaritäten wirken. Das Mitdenken von Sorgearbeit ermöglicht an sich schon Teilhabe, beispielsweise für Menschen, die Sorgeverantwortung tragen und ansonsten von Kämpfen ausgeschlossen wären. Zudem ist es elementar, über Arbeitsaufteilungen zu reflektieren und Privilegien aktiv abzugeben. Eine intersektionale Perspektive, die anerkennt, dass es unterschiedlich ausdifferenzierte Betroffenheiten gibt, ist Voraussetzung dafür, dass Machtverhältnisse nicht reproduziert, sondern reflektiert und gebrochen werden.
Worum muss es also stadtpolitisch gehen? Wir möchten zwei Aspekte vorschlagen: um konkrete Orte und um unsere Nachbar*innenschaften. Nachbar*innenschaften bieten die entsprechende Nähe für ein Ausprobieren dieser solidarischen Beziehungsweisen. Niels Boeing hat kürzlich argumentiert, die Organisierung des Alltags im Stadtteil sei eine vordergründige Aufgabe städtischer sozialer Bewegungen. Wir begrüßen diesen Aufruf und möchten ergänzen: Alltäglich ist vor allem Care-Arbeit! Die Vernetzung sollte unseres Erachtens ein größeres Augenmerk auf die solidarische Organisation von Reproduktionsarbeit legen. Und in dieser Frage spielen auch Bezüge zu konkreten Orten im Stadtteil eine Rolle. Sie sollten offen, selbstverwaltet und ohne Konsumzwang zugänglich sein.
Wie kann es nun von hier aus weitergehen mit den Kämpfen um eine feministische ›Stadt für alle!‹? In ›Eine Stadt für alle!‹-Kontexten sollte unserer Ansicht nach überlegt werden, was eine feministisch-intersektionale Perspektive für die eigene Arbeit und Forderungen bedeutet. Auf dass sich zukünftig auf Frankfurt bezogene, stadtpolitische Forderungen entwickeln, in der Gewissheit, dass die ›Stadt für alle!‹ eine feministische sein muss.