Lars Winterberg

Lars Winterberg

(Dr.) ist Kulturwissenschaftler und koordiniert an der Universität Regensburg das BMBF-Verbundforschungsprojekt »Verdinglichung des Lebendigen: Fleisch als Kulturgut«.

Zuvor forschte und lehrte er in Bonn, Saarbrücken und Mainz.

Cover Die Corona-Gesellschaft

Dieser Text ist die Kurzfassung eines Beitrags aus der Buchpublikation »Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft«, herausgegeben von Michael Volkmer und Karin Werner, die im Juli 2020 erschienen ist.

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Das Virus wird keineswegs nur auf den großen politischen Bühnen der Welt, sondern mitunter den kleinen des Alltags verhandelt: im ÖPNV, bei Kurzarbeit und Homeschooling oder dem Spießroutenlauf durch lokale Supermärkte. Dort sind neben Toilettenpapier zeitweise auch Mehl, Zucker, Nudeln, Hefe oder Konserven rar. Und mit der Schließung von Schlachthöfen richtet sich der Blick der Verbraucher*innen im Frühjahr 2020 bange auf die Fleisch- und Wursttheken unserer Weltrisikogesellschaft. Die Pandemie konturiert globale Ernährungskulturen im Spannungsfeld von Fragilität und Resilienz. Sie wirft nicht nur Schlaglichter auf den Status quo unserer Produktion, Distribution und Konsumption. In den Fokus rückt vielmehr die Frage, inwieweit sich konkrete Utopien künftiger Agrar- und Ernährungskulturen vor dem Hintergrund globaler Seuchen, Ressourcenkonflikte oder Klimafolgen entwickeln lassen.

Beispiel Fleisch: Einst Kraftquelle und Symbol für Fortschritt, gilt es im frühen 21. Jahrhundert als ungesund und gefahrvoll. Man fürchtet Tierleid und Umweltzerstörung, Krebs und BSE, »Antibiotika-« und »Gammelfleisch«. Die Versuchung ist groß, den Blick in eine verklärte Vergangenheit zu richten und Agrarkulturen als Glück im Grünen zu romantisieren. In der Praxis stehen solchen Wunschbildern jedoch Kühlschränke voller Convenience-Food entgegen. Während seit Jahren eine Erosion des Ernährungswissens beklagt wird, sehen sich zahlreiche Haushalte bei geschlossenen Kantinen, Restaurants und Imbissen plötzlich mit Wochenplanung und Vorratshaltung, der täglichen Zubereitung von Speisen und einer sinnvollen Verwertung von Resten konfrontiert.

Und wer will Bauernhofidylle und »Tierwohl« eigentlich bezahlen? Kaum ein Reklameblättchen, das nicht mit Sonderangeboten der Fleischtheken in die Discounter lockt. Medien und Gewerkschaften beklagen indes, der wirkliche Preis für billiges Fleisch seien Ausbeutung und Elend vornehmlich ausländischer Schlachtarbeiter*innen. Ende April 2020 wurden sie in gleich mehreren Bundesländern zu hunderten positiv auf Covid-19 getestet. Zu beengt ihre Unterkünfte, mangelhaft die Hygienebedingungen. Betroffene Kreise verlängerten den Lockdown – ein Nährboden für soziale Konflikte. Ohnehin Marginalisierte gelten als gefahrvoll, weil potenziell infektiös. So wirft das Virus auch Spotlights auf die Arbeits- und Lebensbedingungen entlang einer globalisierten Produktion, die für gewöhnlich hinter Markenimages und Werbebotschaften verborgen bleibt. Im Juni 2020 spitzt sich die Lage zu: Im größten deutschen Schlachthof infizieren sich weit über 1.000 Arbeiter*innen – 7.000 müssen in Quarantäne. Die Empörung schlägt bundesweit Wellen. Agrarministerin Klöckner lädt schließlich zum „Branchengespräch Fleisch“ – es wird ein Krisengipfel.

Im frühen 21. Jahrhundert erscheinen hegemoniale Fleisch-Regime brüchig. Im Zeichen der Pandemie verbinden sich Diskurse um Tierethik und Zoonosen im Sinne einer aktivistischen animal liberation. Tierhaltung und Fleischkonsum werden zu globalen Risiken stilisiert. Wie zuvor schon SARS und MERS hat auch SARS-CoV-2 den Artensprung geschafft. Wildtiermärkte wie im chinesischen Wuhan gelten als Brutstätten. Und Kritiker*innen moderner Intensivtierhaltung lenken die Aufmerksamkeit auf heimische Arten. Insbesondere Schweine stehen im Ruf, als Zwischenwirte in Frage zu kommen. Man spekuliert, sowohl Spanische Grippe als auch Schweinegrippe könne auf amerikanische Ställe zurückgehen. Im System knarzt es, Chaos und zivilisatorischer Kollaps bleiben aber aus. Wir hadern mit der Agroindustrie, aber sie erweist sich als recht resilient. Wo die Bevölkerung hingegen auf Subsistenzwirtschaft angewiesen, der Industrialisierungsgrad niedrig und die politische Lage instabil ist, drohen humanitäre Katastrophen.

Trägt das Virus eine Signatur des Wandels? Wollen wir künftig wieder stärker selbst in der Lage sein, Nahrungsmittel anzubauen, Vorräte haltbar zu machen und selbst Speisen zu kochen? Lassen sich Wirtschaftskreisläufe re-regionalisieren? Sind die Produktions- und Lieferketten einer globalisierten Agroindustrie hinreichend robust? Die Pandemie führt uns vor Augen, was historisch nicht der Ausnahme-, sondern Normalfall war: existenzielle Risiken und Vulnerabilitäten – in Europa, im sogenannten »globalen Norden«, auf der ganzen Welt. Weder eine globalisierte Industrialisierung noch ganz grundsätzlich unser Hunger auf Fleisch begründen eine »Ursünde«, welche uns Seuchen wie Covid-19 beschert. Und doch gilt es einmal mehr, die Risiken und Nebenfolgen unseres (post-)modernen Lebens zu bedenken sowie Nachhaltigkeit und Resilienz als zentrale Fluchtpunkte gesellschaftlichen Handelns zu etablieren.