Auszug aus dem Buch

Die Steinzeit endete vor gut 8000 Jahren mit dem Wechsel zur Metallverarbeitung. So steht es im Lehrbuch. Heute wissen wir, dass dieses Zeitalter erst 1983 wirklich zu Ende war. Denn erst in diesem Jahr brachte eine Elektronikfirma aus Schaumburg/Illinois das erste Mobiltelefon auf den Markt. Es hörte auf den Namen Motorola Dynatac und kostete ein Vielfaches aktueller High-End-Modelle. Mit den Nachfolgern des Dynatac verbringt jeder Mensch in diesem Land heute knapp vier Stunden seiner Lebenszeit – pro Tag und im Schnitt. Dauerte der flächendeckende Umstieg vom Faustkeil auf Messer, Löffel, Axt und Sägeblatt um die 300 Generationen, so vollzog sich der Siegeszug der Elektronik to go in nicht einmal einer Generation. Heute ist das mobile Endgerät ein ständiger Begleiter fast jedes Deutschen jenseits des Grundschulalters. Weltwahr-nehmung, Kontaktpflege, Orientierung, Einkauf, Freizeitgestaltung – ohne Handy und Internet geht inzwischen für die meisten so gut wie nichts mehr.

Das hat Folgen. Eine der wichtigsten betrifft eine grundlegende Zutat unseres Lebens: unsere Freiheit. Während allgemeine Unzufriedenheit und Reizbarkeit, Abgelenktheit und verkürzte Aufmerksamkeit, Vernachlässigung der realen Umgebung und Gesundheitseffekte als Folgen des durchelektronisierten Alltags gelegentlich ins Bewusstsein drängen, bleiben die Konsequenzen für unsere Freiheit in der Regel unsichtbar. Jedenfalls solange man nicht bewusst hinsieht. Denn anders als bei einer militärischen Sonderaktion, die Menschen die Hoheit über ihre Lebensführung und ihr Land nehmen soll, liegt der Schaden für die Freiheit hier nicht offen auf der Hand. Es ist ein Freiheitsverlust der kleinen Schritte, der im Zusammenwirken einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren entsteht. Die elektronischen Handschmeichler und unser Online-Verhalten sind dabei nur ein Aspekt, wenn auch ein wichtiger. Weitere sind (unter anderem) eine Politik der ständigen Bürgerbeschwichtigung und -betreuung, wie sie in den letzten Jahren üblich geworden ist, ein Dauerkrisenmodus, der die öffentliche Kommunikation regelmäßig an ihre Grenzen führt, eine Nachlässigkeit bei staatlichen Kernaufgaben, die sich nicht zuletzt in einer sogenannten Optimierung des Gesundheits- und des Bildungswesens niederschlägt, die Art und Weise wie wir miteinander umgehen. Die Entwicklungen wirken zusammen und arbeiten weitgehend unter dem Radar daran, unserer Freiheit auf mittlere und lange Sicht ihr Fundament zu entziehen.

Karl Hepfer

Freiheit – eine Inventur
Zwischen Betreuungspolitik und digitaler Selbstentmündigung

»Freiheit ist heute eine Chiffre von vagem Inhalt und großer Beliebigkeit. Unter Berufung auf sie gelingt es deshalb nicht selten, sogar Dinge zu rechtfertigen, die bei genauer Betrachtung das Fundament unserer Selbstbestimmung untergraben. Eine sinnvolle Diskussion der für unsere demokratische Gesellschaft zentralen Freiheitsvorstellung gelingt nur, wenn wir ihr (wieder) eine klare Bedeutung geben.«

Karl Hepfer

Für ein besseres Verständnis des Zusammenspiels, müssen wir ein wenig ausholen. Denn nicht nur die Wechselwirkungen und Vielfältigkeit der einzelnen Entwicklungen trüben hier den Blick, sondern auch die Tatsache, dass die Frage nach der Freiheit nicht irgendeine Frage ist. Im Gegenteil, sie betrifft den Kern unseres modernen Gesellschafts und Selbstverständnisses. Darauf weist schon die Vielzahl von Kombi-nationen hin, in denen uns das Wort begegnet: Gedankenfreiheit, Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Reisefreiheit, Religionsfreiheit und andere. Dies hat seinen Teil dazu beigetragen, dass der Freiheitsbegriff über die Zeit zu einer Chiffre von vagem Inhalt und hoher Beliebigkeit geworden ist, die es den unterschiedlichsten Gruppen ermöglicht, sich unter seinem Banner zu versammeln. Dabei ist nicht zuletzt der begriffliche Nebel, der die Freiheit umgibt, dafür verantwortlich, dass wir uns in ihrem Umfeld an viele widersinnige Denkfiguren gewöhnt haben. So scheint es gegenwärtig beispielsweise völlig normal zu sein, denjenigen, die unsere Freiheit mit Terror und Bomben beseitigen wollen, mit dem reflexhaften Ruf nach einer rigiden Einschränkung oder sogar nach der weitgehenden Abschaffung bürgerlicher Freiheiten zu begegnen. Die Freiheit soll hier im Namen der Freiheit eingeschränkt werden – um den Freiheitsfeinden ihr Handwerk zu legen. Ähnliches gilt für die fürsorgliche Einhegung der Bürger im Namen ihrer eigenen Freiheit, eine Denkfigur, die auch in offenen Gesellschaften inzwischen zum Standardinventar des Regierungshandelns gehört. Und zwar eben auch dort, wo sie keinerlei Berechtigung hat. Ein zentrales Anliegen des folgenden Textes ist es, den Blick für den Begriff und die Sache zu schärfen, so dass es leichter fällt, unzulässige Berufungen auf die Freiheit zu erkennen – und entsprechend zu handeln.