Was will Europa? Strategische Autonomie aus friedenspolitischer Perspektive

In den Turbulenzen der letzten Jahre haben Debatten um Europas Rolle in der Friedens- und Sicherheitspolitik zugenommen. Die Diskussion über die häufig geforderte europäische strategische Autonomie sollte sich vorrangig an dreierlei orientieren: an nicht-militärischen Herausforderungen innerer und äußerer Sicherheit, zivilen Instrumenten, um diese zu bearbeiten, und nicht zuletzt einem klaren sicherheitspolitischen Kompass.

Institutionelle Friedenssicherung: die Trends

Die europäische Friedens- und Sicherheitspolitik ist eingebettet in ein komplexes System multilateraler Friedenssicherung. Die Vereinten Nationen (VN) spielen aufgrund ihrer Verantwortung für den Weltfrieden eine zentrale Rolle, sind aber aktuell durch die Blockade wichtiger Mitgliedsstaaten, eine anhaltende Finanzkrise und die offene Infragestellung von Grundpfeilern der regelbasierten internationalen Ordnung, auch durch westliche Staaten, in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt. Der Beitrag von Regionalorganisationen für eine effektive und erfolgreiche Friedenssicherung wird zukünftig also noch wichtiger.

Friedensgutachten 2021
Europa kann mehr!

»Das Friedensgutachten analysiert das aktuelle Konfliktgeschehen, zeigt Trends der Friedens-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik auf und gibt Empfehlungen für die Politik.«

Aus dem Interview mit den Herausgeber*innen

Regionalorganisationen führen bereits einen Großteil der laufenden Friedensmissionen aus. Zwar erfolgen nahezu alle Missionen mit VN-Autorisierung und die VN stellen deutlich mehr Personal, insgesamt ist das Engagement von Regionalorganisationen aber unverzichtbar geworden.

Regionale Sicherheitsorganisationen weisen große Unterschiede in ihren Mandaten, Arbeitsweisen und dem Grad der Integration auf. Diese Unterschiede beeinflussen beispielsweise, ob Entscheidungsprozesse Einstimmigkeit verlangen und inwieweit die Organisationen militärisches oder ziviles Personal in Friedenseinsätze entsenden. Militärisch ist vor allem die NATO aktiv, während insbesondere EU und OSZE auch in größerem Umfang ziviles Personal entsenden. Daneben betreibt die EU etwa in Afrika auch Kapazitätsentwicklung und unterstützt seit vielen Jahren den Auf- und Ausbau der afrikanischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur. Mit einzelnen Regionalorganisationen pflegen die VN eine gute Zusammenarbeit, etwa über regelmäßige Briefings mit der OSZE oder jährliche Treffen mit der EU. Gemeinsame Missionen, wie die 2020 nach 13 Jahren beendete Hybridmission von VN und Afrikanischer Union (AU) in Darfur (UNAMID), zeigen, dass die Zusammenarbeit auch auf operativer Ebene erfolgreich sein kann. Erforderlich ist aber eine stärkere Koordination zwischen VN und Regionalorganisationen. Die Schwerpunkte der jeweiligen Organisationen sollten enger aufeinander abgestimmt werden. Durch eine verbesserte Koordination zwischen den Organisationen lassen sich die Wirksamkeit und Leistungsfähigkeit multilateraler Friedensicherung stärken.

Die europäische Sicherheitsarchitektur galt lange Zeit als Erfolgsmodell gelungener regionaler Friedenssicherung. Sie war und ist durch ein dichtes und komplexes Netz von Sicherheitsorganisationen mit überlappenden Mitgliedschaften und Verantwortlichkeiten geprägt. Dies hat in der Vergangenheit zu Konkurrenz und gegenseitigen Blockaden geführt, aber auch Kooperation und eine in Teilen funktionale Arbeitsteilung ermöglicht, bei der die jeweiligen Schwerpunkte von OSZE, NATO und EU komplementär zueinander existierten.

In den vergangenen Jahren haben sich die Rahmenbedingungen für die gesamteuropäische Sicherheitslandschaft jedoch grundlegend geändert. Die Beziehungen zu Russland sind so schlecht wie nie zuvor seit dem Kalten Krieg. Russland hat die Krim annektiert, fördert den Krieg in der Ostukraine und zielt offen darauf ab, die EU zu schwächen. Andererseits hat der Westen es nicht vermocht, Russland in europäische Sicherheitsstrukturen einzubinden. Die transatlantischen Beziehungen wiederum haben nicht erst seit der Präsidentschaft von Donald Trump massiv unter einem lahmenden Interesse der USA an einer engen und vertieften Zusammenarbeit im Bündnis sowie divergierenden Vorstellungen über das Engagement der europäischen Staaten gelitten. Die Diskussion um die Verteidigungsausgaben der NATO-Mitglieder wird auch unter Präsident Biden das transatlantische Verhältnis prägen, ebenso Differenzen im Umgang mit China, Iran, oder Russland. Schließlich stellt auch die derzeitige Krise der EU, intensiviert durch den Austritt Großbritanniens und den anhaltenden Erfolg populistischer Regierungen, das Friedensprojekt Europa vor ungeahnte Herausforderungen.

Die europäischen Sicherheitsinstitutionen müssen darum ihre jeweiligen Aufgaben und Rollen klären und gemeinsam neue Mechanismen für eine funktionierende und kohärente Kooperation entwickeln. Aus den Erfahrungen der vergangenen 30 Jahre ließe sich lernen, wie Organisationen stärker kooperieren und Konflikte vermeiden können. Gelingt eine programmatische Neuorientierung von OSZE, NATO und EU, die individuelle Profile stärkt und gemeinsame Herausforderungen fokussiert, lässt sich eine (neue) funktionale Arbeitsteilung für die europäische Sicherheit erreichen.


Empfehlungen:

1.) Europas Sicherheit weiterhin auch transatlantisch denken

Im laufenden Strategieprozess der EU müssen die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) und der Strategieprozess der NATO zusammen entwickelt werden.

2.) Die OSZE besser nutzen

Deutschland sollte auf ein OSZE-Gipfeltreffen 2025 mit der Perspektive hinarbeiten, dort ein Programm pragmatischer Kooperation zur Stabilisierung der europäischen Ordnung zu verabschieden. Mit gleichgesinnten Staaten sollte die Bundesregierung eine »Group of Friends of the OSCE« gründen, um ein solches Programm voranzutreiben.

3.) Den strategischen Kompass der EU friedenspolitisch ausrichten

Die Bundesregierung sollte sich für die Entwicklung eines kohärenten Rahmens für den strategischen Kompass der EU einsetzen, der stärker auf zivile und friedenspolitische Ziele auszurichten ist.

4.) Den Pakt für die »zivile GSVP« umsetzen

Die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass zivile GSVP-Strukturen und Fähigkeiten bis 2023 gestärkt und mit den militärischen Fähigkeiten der EU besser verzahnt werden.

5.) Das europäische Ziel der »digitalen Souveränität« zur demokratischen Gestaltung nutzen

Die EU sollte keine digitalen Überwachungstechnologien an autoritäre Staaten liefern und ausgewogene Standards zur Regulierung digitaler Hassrede verabschieden.

6.) Maßnahmen und Strukturen der EU-Terrorismusbekämpfung systematisch evaluieren

Die EU sollte nicht immer weitere Maßnahmen und Strukturen aufbauen, sondern sich auf die Implementierung und Evaluierung der vorhandenen konzentrieren.