
Der Krieg hat das vergangene Jahr nicht nur in Europa, sondern in vielen Weltregionen weltweit bestimmt. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist zwar ein regionaler Krieg auf dem europäischen Kontinent, seine Folgen sind dennoch weltweit zu spüren: im Anstieg der Kerninflation und in Preiserhöhungen für Energie und Lebensmittel, in Fluchtbewegungen und nicht zuletzt in den sich verschärfenden Konflikten im Indopazifik. Gleichzeitig war der Krieg in der Ukraine bei weitem nicht der einzige Gewaltkonflikt im vergangenen Jahr. Doch während in einigen der schon lange andauernden Konflikte jüngst die Gewalt abnimmt oder sogar Friedensbemühungen unternommen werden – etwa im Konflikt in Tigray oder im Jemenkrieg – ist der Krieg gegen die Ukraine durch ein sehr hohes Gewaltniveau geprägt. Russische Streitkräfte haben gezielt zivile Ziele angegriffen und ukrainische Energieinfrastrukturen zerstört. Seit dem Jahreswechsel 2022/2023 wandelt sich der Konflikt immer deutlicher zu einem Abnutzungskrieg.
Immer lauter wurden gleichzeitig die Forderungen nach sofortigen Friedensverhandlungen und einem Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine in Manifesten, offenen Briefen und auf Demonstrationen. Diese Forderungen verkennen, dass ein Einstellen der internationalen militärischen Unterstützung der Ukraine nicht zu einem nachhaltigen Frieden führen würde; und dass Friedensverhandlungen momentan noch nicht auf der politischen Agenda stehen. So bekräftigte die russische Seite im Frühjahr 2023 erneut, dass sie von ihren Kriegszielen nicht abrücken will. Solche Äußerungen im Kontext immer neuer Gräueltaten in der Ukraine lassen auf ukrainischer Seite Friedensverhandlungen obsolet erscheinen. Schon im Oktober 2022 hatte deswegen die Ukraine per Dekret Verhandlungen mit Wladimir Putin verboten und diese Position wiederholt bestätigt. Starke externe Vermittlung wird zu einem späteren Zeitpunkt dazu beitragen können, dass Russland und die Ukraine in Verhandlungen eintreten. Eine internationale Kontaktgruppe zur Vermittlung zwischen Russland und Ukraine muss langfristig vorbereitet werden.
Doch selbst wenn man all dies außer Acht ließe und jenen Aufrufen folgte, die ein sofortiges Ende von Waffenlieferungen fordern, wäre ebenfalls noch lange kein Frieden. Denn ohne die militärische Unterstützung der NATO-Staaten würde die Ukraine militärisch unterliegen. Die Erfahrungen mit der russischen Besatzungspraxis in der Ukraine – von Folter, sexueller Gewalt, Verschleppung bis hin zu Tötungen – lassen Schlimmes erwarten. Es ist anzunehmen, dass Russland seine Säuberungspraxis auf die ganze Ukraine ausdehnen und die Ukraine in die russische Föderation zwangsintegrieren würde. Zudem steht zu befürchten, dass der Expansionsdrang Moskaus damit nicht beendet wäre. Die Sicherheitslage in ganz Europa würde sich verschlechtern.
Angesichts dieser Ausgangslage ist noch lange kein Frieden in Sicht. Das entspricht der Prognose empirischer Forschung: Nur 20 % aller zwischenstaatlichen Kriege enden tatsächlich mit einer militärischen Niederlage oder einem Sieg; weitere 30 % haben kein klares Ergebnis, sondern erlahmen nach vielen Kriegsjahren aus Erschöpfung, weil den Konfliktparteien die Ressourcen ausgehen. Sie flammen schnell wieder auf, wenn eine Erholungsphase durchschritten ist. Immerhin knapp die Hälft aller zwischenstaatlichen Kriege endet mit Verhandlungen. Selbst von diesen fällt allerdings ein Großteil wieder zurück in die Gewalt. Hinzu kommt ein weiteres Faktum: Kriege, die nicht innerhalb des ersten Jahres beendet werden, haben eine hohe Wahrscheinlichkeit, zu langen Kriegen zu werden, die sich im Mittel über zehn Jahre hinziehen.
Übertragen auf den Ukrainekrieg deutet sich damit an, dass ein lange währender Abnutzungskrieg ein plausibles Szenario ist. Heiße und eingefrorene Phasen können einander abwechseln. Das bedeutet für die europäischen NATO-Staaten, dass sie sich auf eine langfristige und kostenintensive Unterstützung der Ukraine einstellen und zugleich verhindern müssen, dass der Krieg auf ihre Territorien übergreift.
Die Bundesregierung sollte unter diesen schwierigen Bedingungen eine Doppelstrategie verfolgen: die Ukraine militärisch, politisch und ökonomisch unterstützen und zugleich an der Vorbereitung einer internationalen Vermittlungsinitiative mitwirken. Dabei geht es explizit nicht um die Aufforderung zu »Verhandlungen jetzt und sofort«, sondern darum, die politischen und technischen Voraussetzungen für erwartungsgemäß sehr schwierige Statusgespräche zu schaffen. Hierbei muss aus den Fehlern des gescheiterten Minsk Prozesses gelernt werden, der 2014 startete, auf eine »Pazifizierung« der Situation abzielte und kurz vor dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 endete. Der zukünftige Erfolg solcher Verhandlungen wird sich daran entscheiden, ob externe Partner*innen – darunter auch Deutschland – der Ukraine glaubwürdige Sicherheitsgarantien geben können, dass sich ein Angriffskrieg auf ihr Territorium nicht wiederholen kann.
BICC Bonn International Centre for Conflict Studies et al.
Friedensgutachten 2023 ↗
Noch lange kein Frieden
Russlands Krieg gegen die Ukraine, Pandemie, Klimawandel und Extremwetterereignisse: Immer neue Krisen erschüttern die Gesellschaften weltweit. Zugleich steigt die Zahl der Gewaltkonflikte, an denen häufig nichtstaatliche, irreguläre Milizen und Rebellen beteiligt sind. Das Friedensgutachten 2023 zeigt auf, welche Handlungsspielräume die deutsche Politik nach der »Zeitenwende« in der Friedens- und Sicherheitspolitik hat. Zentrale Themen sind die Erhöhung der Widerstandsfähigkeit im Globalen Süden angesichts multipler Krisen sowie die Entwicklung eines Ansatzes, Rüstungskontrolle neu zu denken und gegen Desinformationen zu schützen. Ebenso im Fokus stehen die kluge Gestaltung des Handels mit unbequemen Partnern, die Förderung von kooperativen Beziehungen und der Kampf gegen die Polarisierung demokratischer Gesellschaften.