
Jürgen Manemann
ist Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover.
Seine Forschungsschwerpunkte sind neuere Demokratietheorien und Umweltphilosophie.

Dieser Text ist die Kurzfassung eines Beitrags aus der Buchpublikation »Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft«, herausgegeben von Michael Volkmer und Karin Werner, die im Juli 2020 erschienen ist.
›Nackt in der Badewanne‹ verkündete Madonna in einem Videoclip, dass das Coronavirus »der große Gleichmacher« sei, und stellte dabei erleichtert fest: »Wenn das Schiff untergeht, gehen wir alle zusammen unter.« Eine solche Aussage zeugt von Blindheit gegenüber den unterschiedlichen Verwundbarkeiten, denen unterschiedliche Menschen aufgrund unterschiedlicher Gefährdungen in der Corona-Pandemie ausgesetzt sind. Zu Recht rieben sich einige Fans die Augen; verwundert ob derlei Weltfremdheit mahnten sie: »Entschuldige, meine Königin, ich liebe dich so sehr, aber wir sind nicht gleich. Wir können durch die gleiche Krankheit sterben, aber die Armen werden am meisten leiden. Romantisiere diese Tragödie nicht.«
Das Virus – ein großer Gleichmacher? Für Madonna liegt in der Vorstellung von der gleichmachenden Todeskraft des Virus ein Trost, muss sie doch nicht allein untergehen. Wenn andere mitsterben, sei das eigene Sterben nicht ganz so schwer – so ihre Annahme. Allerdings lässt sich das Sterben nicht delegieren. Im Blick auf das Coronavirus wäre zu formulieren: Wir gehen alle unter, aber nicht gemeinsam. »Corona« bedeutet Seuchentod – und das ist ein sehr einsamer Tod. Die Idee vom Tod als großem Gleichmacher ist nicht neu. Sie findet sich auch in den spätmittelalterlichen Totentänzen. Aber anders als bei Madonna ging der Gedanke dort mit einer radikalen Sozialkritik einher. Die Erkenntnis, dass die Pest alle Menschen in gleicher Weise mit dem Tod bedroht, gerann hier nicht zur billigen Vertröstung. Die Gleichheit im Tod offenbarte die Ungleichheit im Leben.
Ja, das Virus ist ein Gleichmacher. Es kann jeden Menschen treffen – aber es trifft nicht jeden. Wir sollten es deshalb auch nicht mit Lothar Wieler (Präsident des Robert Koch-Instituts) als »demokratisch« bezeichnen. Das Virus entfaltet keine freiheitlich-egalisierende Wirkung. Im Gegenteil, es geht mit der Einschränkung von Grundrechten einher. Nun könnte natürlich eingewandt werden, dass die rhetorische Absicht einer solchen Rede in eine andere Richtung ziele: Wir Bürger*innen müssen zusammenhalten und gemeinsam handeln, weil diese Gefahr uns alle bedroht. Intendiert wäre also die Evozierung von Solidarität, genauer von Zwangssolidarität. Eine solche Rhetorik hat jedoch Nebenwirkungen. Sie vernebelt die asymmetrische Gemengelage, die Faktizität unterschiedlicher Gefährdungen. Statt vom Gleichsein zu reden, wäre stattdessen Gleichbehandlung einzufordern. Analog zur Forderung der Gleichheit vor dem Recht wäre die Forderung nach Gleichheit vor dem Virus zu stellen. Dabei dürfte die Gleichbehandlung die spezifische Benachteiligung von bestimmten Menschen aber nicht zudecken, sondern müsste sie offenlegen. Die Aufgabe bestünde also darin, unsere Rede von Gleichheit im Blick auf konkrete Menschen mit ihrer spezifischen Verwundbarkeit angesichts sozio-politischer und kultureller Hegemonien zu befragen. Eine solche Rede von Gleichheit besäße das Potential, ein gesellschaftskritisches Solidaritätsempfinden hervorzurufen.
Wenn Judith Butler lakonisch registriert: »das Virus diskriminiert nicht«, dann zielt sie mit dieser Feststellung darauf ab, uns für die unterschiedlichen Verwundbarkeiten zu sensibilisieren, die aus politisch hergestellten Diskriminierungen resultieren. Menschen sind nicht gleich verwundbar. Wir wissen das, aber wir wissen das scheinbar nur im medizinischen, nicht im dezidiert politischen Sinn. So sprechen wir von »vulnerablen Personen«, den »Risikogruppen«. Interessant ist, dass dabei häufig unausgesprochen ein Appell an das Solidaritätsgefühl der weniger vulnerablen Personen mitschwingt: Seid achtsam und vorsichtig im alltäglichen Umgang mit Personen, die verwundbarer sind als ihr. Das ist im öffentlichen Diskurs nicht selbstverständlich, denn für gewöhnlich bedeutet Solidarität hier entweder Zwangssolidarität (s.o.) oder Zwecksolidarität (also eigennützig). Beide Solidaritäten sind wichtig. Sie sind Ausdruck einer Bündnissolidarität: Ich unterstütze dich, damit du mich unterstützt. Beide Solidaritäten laufen jedoch immer auch Gefahr, zum bloßen Abbild einer Tauschgesellschaft zu verkommen. Die appellative Verwendung des Adjektivs »vulnerabel« in der Corona-Krise zielt hingegen auf eine Solidarität, die eine auf Tausch angelegte Beidseitigkeit durchbricht. Sie verlangt von uns ein solidarisches Handeln, das in der differenzsensiblen Wahrnehmung von Verwundbarkeiten gründet. Diese Solidarität bleibt angesichts des Coronavirus nicht bei der Erinnerung daran stehen, dass wir alle verletzbar sind. Sie zwingt uns genauer hinzusehen und zu erkennen, dass es, wie Butler herausgearbeitet hat, neben dem allgemeinen Gefährdetsein des Lebens auch Gefährdungen gibt, denen nicht alle Körper gleich ausgesetzt sind. Es gibt Körper, die sind besser geschützt als andere. Diese Erkenntnis benötigen wir heute dringender denn je. In der gegenwärtigen Krise könnte eine differenzsensible Wahrnehmung von Verwundbarkeit ein Solidaritätsempfinden mit den Menschen hervorrufen, die aufgrund spezifischer Verwundbarkeiten und Verwundungen stärker gefährdet sind.
Aber die Wahrnehmung von Verwundbarkeit führt nicht zwangsläufig zu Solidarität. Sie birgt auch Risiken in sich. So besteht etwa die Gefahr, dass gerade die Wahrnehmung der spezifischen Verwundbarkeit anderer eine Erinnerung an die eigene Verletzlichkeit generiert, die kein Solidaritätsempfinden auslöst, sondern Furcht, und zu neuen Herrschaftsformen führt. Potenzielle Verwundbarkeit geht immer auch mit der Gefahr des Missbrauchs einher. Des Weiteren ist zu bedenken, dass die Kennzeichnung »vulnerabel« eine Markierung nach sich ziehen kann, die zu einer Stigmatisierung der vulnerablen Person führt und deren Ausgesetztheit zur Folge hat. Zudem geht die Wahrnehmung einer größeren Verwundbarkeit nicht automatisch mit mehr Schutz einher, wie gerade ein Blick auf die Debatte über die intensivmedizinische Behandlung in Corona-Zeiten zeigt.
Gleichheit vor dem Virus! – Das bedeutet Verhältnisse zu etablieren, die unsere Empfindsamkeit für die spezifische Verwundbarkeit Anderer fördern. Diese Empfindsamkeit ist die Voraussetzung dafür, die Menschenwürde des Einzelnen zu erfahren und anzuerkennen. Es ist unsere Würde, die sich allen Versuchen, unser Leben zu bepreisen, widersetzt. Mit der Forderung nach Gleichheit vor dem Virus geht der Aufruf einher, die unterschiedlichen Verwundbarkeiten als politisch inszenierte Gefährdungen wahrzunehmen und sich für deren Abschaffung einzusetzen. Wer sie fordert, muss kritisch fragen: Wer spricht wie, wo, wann und mit welcher Absicht von Verwundbarkeit?