Sogenannte memes – zu Deutsch Meme – sind längst Teil unseres Alltags. Menschen tragen Hoodies mit meme-Motiven, im neuseeländischen Parlament wird das OK-Boomer-meme zitiert, und die US-amerikanische Botschaft in Kiew twittert noch vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine ein galgenhumoristisches anti-Russland-Mem. Memes, also Bild-, Ton-, Text- oder Videobeiträge (oder auch Kombinationen all dieser Elemente), die sich im Internet in Windeseile verbreiten und im Zuge dieses Verbreitungsprozesses vielfältige Veränderungen erfahren, sind omnipräsent. Bis vor kurzem allerdings war es kaum vorstellbar, dass Gepflogenheiten und Produkte onlinebasierter Kommunikation das ›echte Leben‹ dereinst in diesem Ausmaß prägen würden: Noch 1996 postulierte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel in einem Artikel über die »weltweite Datenverbindung Internet« eine »unüberbrückbare Kluft zwischen Leben und der mechanischen Simulation von Prozessen«, also zwischen einer nicht näher definierten ›Realität‹ und einer angeblich immer nur künstlichen, imitierenden und insofern nachgeordneten und vernachlässigbaren ›Digitalität‹.

Nun mag man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte positiv oder negativ deuten, man mag im Internet das Versprechen von Demokratisierung und Transparenz oder die Drohkulisse von Überwachung und Desinformation sehen – sicher ist in jedem Fall, dass es keine »Kluft« zwischen »Leben« und Digitalkultur mehr gibt, wenn es sie denn jemals gab. Wir leben längst in einer Kultur der Digitalität – so der Titel von Felix Stalders 2016 erschienenem Standardwerk. Gemeint ist: Der digitale Raum schafft genuin neue Handlungsräume, Weltbezüge und Deutungsmuster, geprägt von eigenen ästhetischen Verfahren. Diese ›Kultur der Digitalität‹ führt die Rede von einer Trennung zwischen Leben und ›Netz‹ ad absurdum. Und memes gehören zu jenen Manifestationen dieser Kultur, die das Ineinandergreifen von ›Digitalität‹ und ›Realität‹ besonders anschaulich machen und deshalb kulturwissenschaftlicher Aufmerksamkeit bedürfen. Dem versuchen wir in unserem Buch Memes. Formen und Folgen eines Internetphänomens zu begegnen.

Joanna Nowotny / Julian Reidy

Memes – Formen und Folgen eines Internetphänomens

»Meme-Theorie war in Deutschland ein lange unbeleuchtetes Feld, das Buch von Nowotny und Reidy ist der dringend benötigte Scheinwerfer.«

Veronika Kracher, Journalistin, Medienexpertin

Wir haben uns vorgenommen, ein Buch zu schreiben, das das digitalkulturelle Phänomen der Meme ernst nimmt. Das bedeutet: Wir versuchen, memes erstens als eine Gattung kultureller Artefakte zu begreifen, die sich präzise und auf schlüssige Weise beschreiben lassen; eine Gattung, die sich zweitens von anderen Gattungen unterscheidet respektive sich im Wechselspiel mit anderen kulturellen Traditionslinien erst ausbildet und die drittens durch ihre Aufnahme bei einem breiten Publikum neue Fragestellungen und Problemfelder eröffnet, also neue Fragen zu Kategorien wie ›Autorschaft‹, ›Publikum‹ und ›Produzent*innen‹ aufwirft. Grundlegend ist dabei immer die Feststellung, dass Meme ästhetische Produkte sind, die durch (üblicherweise) anonyme und kollektive Autorschaft entstehen. Sie unterlaufen damit traditionelle Vorstellungen von Autorschaft – nicht zuletzt das mag mit ein Grund dafür sein, dass lange ohnehin nicht von einer (ästhetischen) ›Gattung‹ meme gesprochen wurde und man memes erst seit Kurzem als ›kulturelle Formen‹ begreift, die einer vertieften Analyse würdig sind. Die ästhetische Eigenwertigkeit und Vielseitigkeit von memes geriet jedenfalls kaum in den Blick, auch zu einer Zeit, als verschiedene neue oder auch nicht mehr so neue Medien wie der Film, das Fernsehen oder der Comic schon längst die Aufmerksamkeit diverser kulturwissenschaftlicher Disziplinen auf sich gezogen hatten. In diese Lücke stößt unser Buch.

Aufbauen können wir auf einigen wichtigen Arbeiten zu memes und zur Digitalkultur allgemein sowie auf Methoden, die in anderen Bereichen entwickelt wurden und sich besonders eignen für die Mem-Analyse. Typische memes weisen oft Gemeinsamkeiten mit dem Medium Comic auf, und die sogenannte multimodale Comicanalyse im Speziellen hat Analyseinstrumente entwickelt, die im Hintergrund unserer Überlegungen stehen. Multimodal sind im Falle von Comics nicht nur Bild und Text, also der visuelle und verbale Modus; analysiert werden ebenso kleinere Einheiten, wie Farben, Rahmungen oder auch der Einsatz bestimmter Schrifttypen und Interpunktionszeichen. Für Meme, die eine stark visuelle Komponente aufweisen, gibt es spezifische Ansätze, die an den in anderen Feldern entwickelten Methoden geschult sind. Untersuchungen, die sich an der visuellen Rhetorik orientieren, suchen nach jenen Strategien in visuellen Artefakten, die eine überzeugende Wirkung auf die Betrachter*innen ausüben. Ein Beispiel wäre eine Analyse der Bildelemente in memes im Hinblick auf ›subversive‹ Strategien, die dem*der Betrachter*in eine den Mainstream-Medien widersprechende Botschaft vermitteln. Ein systematischer Perspektivenwechsel in Richtung Rezeption ist mit einer sogenannten dokumentarischen Bildanalyse möglich, die nicht bewusst angewandte rhetorische Strategien auf Seiten der Bildproduzent*innen, sondern das durch Bilder vermittelte implizite Wissen ins Zentrum stellt.

Neben Stalders Kultur der Digitalität wären hier die Beiträge von Shifman zu nennen, die Monografie Meme. Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter (Berlin: Suhrkamp, 2014) sowie zahlreiche Aufsätze, die sie z. T. mit Dafna Lemish verfasst hat. Sehr wichtig für uns ist zudem das Buch Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus von Simon Strick (transcript 2021) sowie Veronika Krachers Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults (Ventil Verlag 2020), die sich u.a. mit memes als Trägern von toxischen Ideologien auseinandersetzen. In unserem Buch selber findet sich eine ausführliche Bibliografie, die weit mehr für uns wichtige Texte nennt.

Mit diesen Ansätzen der Multimodalitätsforschung allein sind memes jedoch nur ungenügend beschrieben. Ihre Wissensproduktion und -vermittlung findet immer in Kontexten statt, weswegen der Sensibilität für verschiedene ›Modalitäten‹ andere Aspekte zur Seite gestellt werden müssen. Unter der Gefahr, eine Binsenweisheit zu formulieren: Jegliche Analyse memetischer Phänomene, die ihrem Anspruch nach mehr sein will als präzise Beschreibung eines kulturellen Artefakts, muss auf der Erkenntnis basieren, dass Wissen stets in und durch Zeichen generiert und verbreitet wird – und dass diese Prozesse in sozialen, historischen und kulturellen Kontexten stattfinden. Solche im weitesten Sinne diskursorientierten Analysen interessieren sich für die Beziehungen zwischen Wissen und Macht. Im Feld der meme-Studien werden somit etwa die Fragen relevant, ob und wenn ja wie Meme politisch subversiv und kritisch sein können, oder, im Gegenteil, ob und wenn ja wie Meme an der Konstruktion und Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen mitwirken. Eine Synthese zwischen primär an der Form und Ästhetik interessierten Analysen und Lektüren, die memes in ihren Kontexten verankern, erscheint uns folglich als Königsweg: Ihn versuchen wir zu beschreiten, statt Methodenkämpfe auszutragen.

Joanna Nowotny (Dr. sc. ETH), geb. 1988, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern. Sie promovierte an der ETH Zürich mit einer Arbeit zur jüdischen Kierkegaard-Rezeption und kann auf einen Forschungsaufenthalt an der University of Chicago zurückblicken. Sie ist eine profilierte Comicforscherin und publiziert als freie Mitarbeiterin in der Berner Tageszeitung Der Bund.

Julian Reidy (PD Dr. phil.), geb. 1986, ist Lehrbeauftragter an der Universität Genf. Nach seiner Promotion an der Universität Bern und postdoktoralen Forschungs- und Lehrtätigkeit an den Universitäten Bern und Genf sowie am Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich habilitierte er 2017 an der Universität Bern mit einer Arbeit zu Raumsemantiken in Thomas Manns Erzählwerk.