Cover Friedensgutachten 2020

Dieser Text ist ein Auszug aus der Buchpublikation »Friedensgutachten 2020. Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa«, herausgegeben von den deutschen Friedensforschungsinstituten BICC/HSF/IFSH/INEF, die im Juni im transcript Verlag im Open Access erschienen ist.


Wir können im Frühjahr 2020 keine Analyse zum Zustand des Friedens in der Welt schreiben, ohne auf die Corona-Pandemie einzugehen. Die Wucht, mit der die Corona-Krise andere Themen beeinflusst und verdrängt, ist enorm. Das Virus, das zuerst in China auftauchte, hat sich schnell über den gesamten Globus verbreitet. Versuche der Eindämmung haben zu teils massiven Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten geführt. Social distancing wird zum neuen Modus des Zusammenlebens. Spekulationsgeschäfte auf fallende Kurse greifen um sich. Nationale Volkswirtschaften brechen nach und nach ein. Das sind erhebliche Stressfaktoren für den gesellschaftlichen und den internationalen Frieden.

In Europa richtet sich die Aufmerksamkeit in der Corona-Krise vorrangig auf Themen des innergesellschaftlichen Friedens und auf die Frage, wie solidarisch unsere Gesellschaften sind. Aber die Pandemie trifft andere Weltregionen genauso oder dramatischer – und auch sie gilt es in den Blick zu nehmen, wenn wir über Friedensgefährdungen nachdenken. Gerade in den ärmsten Ländern besteht die Gefahr, dass als Folge der nächsten Wellen der Pandemie Gesundheitssysteme kollabieren, massive Engpässe bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und sauberem Trinkwasser eintreten, aber auch staatliche Institutionen versagen und politische Unruhen sowie erhöhte Alltagsgewalt die Folge sind.

In den großen Konflikten der Gegenwart interessiert diejenigen das Virus nicht, die den Konflikt zu ihren Gunsten entscheiden wollen. Die Opfer in den Krisenregionen konzentrieren sich aufs unmittelbare Überleben – und sind dem Virus schutzlos ausgeliefert. In Idlib, im Jemen oder im Südsudan wird nicht getestet oder behandelt, nur weiterverbreitet und gestorben. Daher ist der Aufruf des VN-Generalsekretärs zu einem globalen Waffenstillstand in allen Teilen der Welt die richtige Antwort. Der Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten, ohnehin eher Anspruch als Praxis, wird in Corona-Zeiten noch prekärer. Auch für Flüchtlinge verschärft sich die humanitäre Situation drastisch. Auf Lesbos wurden im März/April 2020 die Lager abgeriegelt, sodass der Zugang zu sozialen Hilfsangeboten und -projekten in einer Situation wegfiel, in der durch Überfüllung ohnehin Unruhen aufflammen konnten. Die EU setzte zugleich ihre humanitären Umsiedlungs-Programme aus. Generell schotteten sich die Staaten, die es konnten, noch mehr ab als zuvor.

Die immensen Ressourcen personeller, finanzieller, aber auch kognitiver Natur, die Gesellschaften zur Bewältigung der Corona-Krise mobilisieren, werfen einen langen Schatten, in dem andere Problemlagen und Gefährdungen des Friedens vernachlässigt werden oder sogar aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden. Dazu zählen der Klimawandel, der Zustand bürgerlicher Freiheiten in und außerhalb Europas oder die fortbestehenden Gefahren rechter Gewalt.

Doch nicht nur die Aufmerksamkeit für Themen wandelt sich im Schatten von Corona. Auch die Ebenen, auf denen Politik ausgehandelt und umgesetzt wird, verschieben sich ins Nationale – bis hin zum Isolationismus. Ausgerechnet der Kampf gegen ein Virus, das sich mit ungeheurer Geschwindigkeit über den ganzen Globus verbreitet, wird vor allem mit den Mitteln nationaler Politik geführt. Geschlossene Grenzen, Alleingänge, Konkurrenz um Schutzkleidung, medizinische Instrumente, Medikamente und Impfstoffe – die Corona-Krise hat eine Tendenz verstärkt, die schon seit längerem zu beobachten war: Statt multilaterale Zusammenarbeit zu suchen, gehen Staaten allein vor.

Hinzu kommt, dass Regierungen auf der ganzen Welt im Kampf gegen das Virus grundlegende Freiheitsrechte einschränken. Dieser erhebliche Machtzuwachs der Exekutive darf nicht grenzenlos andauern. Auslaufklauseln sind erforderlich, wenn Demokratie und Bürgerrechte nicht dauerhafte Schäden davontragen sollen. Während in Deutschland und in anderen Ländern schon früh die Gefahren eines Ausnahmezustands dieser Tragweite diskutiert wurden, haben manche Regierungschefs wie etwa der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán die Corona-Krise als Möglichkeit genutzt, demokratische Strukturen weiter zurückzubauen.

Das Friedensgutachten 2020 nimmt friedenspolitische Themen auf, die vor der Corona-Pandemie zentral waren und dies auch bleiben – selbst wenn sie nun in den Schatten der Krise geraten sind. Wir fordern, diese Themen nicht zu vernachlässigen: die Intensivierung des Klimaschutzes, den Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten, den richtigen Umgang mit Massenprotestbewegungen, eine auf Resilienz ausgerichtete Cyberstrategie, die Einhegung von Großmachtrivalitäten mittels internationaler Kooperationen sowie die Bekämpfung digitaler Hasskulturen. Corona kann für diese Felder friedenspolitischen Handelns beides sein: Krise, aber auch Chance. In welche Richtung sich das Pendel bewegt, ließ sich bei Redaktionsschluss für diese Stellungnahme (30. April 2020) noch nicht zuverlässig beurteilen.