Dieser Beitrag ist ein Gespräch zwischen drei Menschen, die Theater machen: Konstantin Langenick, Sophia Neises und Ann-Reb Thomas.
In diesem Text erzählen wir von unseren Erfahrungen am Theater.
Wir stellen uns Fragen dazu, wie wir als Künstler*innen arbeiten wollen.
Wir haben Forderungen an nichtbehinderte Theaterschaffende.
Wir haben Visionen für behinderte Künstler*innen.
Ann-Reb Thomas: Behinderung entsteht, wenn die Umgebung für einen Menschen nicht funktioniert. Für Menschen, die nicht so sind wie die Mehrheit, entstehen mehr Behinderungen als für die Mehrheit.
Friederike Falk / Eliana Schüler / Isabelle Zinsmaier (Hg.)
Zeitgenössische Theaterpädagogik ↗
Macht- und diskriminierungskritische Perspektiven
Wie wirken Machtstrukturen im Feld der Theaterpädagogik? Wo und wie werden Diskriminierungen und Ausschlüsse reproduziert? Welche künstlerischen, pädagogischen und institutionellen Strategien des Widerstands gibt es? Der Band versammelt Stimmen aus Theorie und Praxis der Theaterpädagogik sowie angrenzenden Disziplinen, um macht- und diskriminierungskritische Ansätze für eine zeitgenössische Theaterpädagogik zu entwerfen. Die Beiträge fragen nach Identität und Repräsentation, Beziehungen, Arbeits-, Förder- und Ausbildungsstrukturen sowie ästhetischen Hegemonien.
Macht, Privilegien und Schokokuchen
Sophia Neises: Dass Menschen in einer Gesellschaft bewertet werden, ist der Boden für Ableismus. Ableismus bezieht sich auf die Diskriminierung aufgrund von Fähigkeiten.
Konstantin Langenick: Eine Person mit einem Privileg kann Sachen machen, ohne darin behindert zu werden. Sie hat den Zugang. Das ist wie eine Eintrittskarte, mit der ein Mensch überall reinkommt.
Eine mächtige Person hat immer viele Privilegien. Sonst würde sie auch nicht in diese mächtige Position kommen. Nehmen wir an, ein Schokokuchen ist in einem Raum und nur eine Person hat den Schlüssel. Damit hat die Person die Macht, zu entscheiden: Du darfst hier Kuchen essen und du nicht. Eigentlich kannst du aber auch den Schlüssel abgeben und damit einer anderen Person die Macht übergeben. Doch wer bekommt überhaupt den Schlüssel?
Sophia Neises: Der Schlüssel kann so vieles bedeuten. Bildungsabschluss, körperliche Fähigkeiten, weiß-Sein… Manche Schlüssel kann ich abgeben, andere aber auch nicht. Dann gilt es, zu entscheiden: Wie kann ich die Tür aufhalten? Welchen Aufwand erbringe ich mit meinem Privileg, um Zugänge zu schaffen?
Ann-Reb Thomas: In Machtpositionen haben wir die Möglichkeit, Barrieren abzubauen. Meine Erfahrung mit Menschen in Machtpositionen ist aber, dass sie das oft nicht tun, um ihre Macht zu erhalten.
Ich frage mich immer, warum gibt es keine Bereitschaft, mehr Zugänge für behinderte Künstler*innen zu schaffen? Ich denke, es hat viel mit Angst der Privilegierten zu tun.
Sophia Neises: Solange wir darauf beharren, dass nur eine bestimmte Gruppe von Menschen Zugang hat, bleibt Theater verschlossen, fade und langweilig. Wenn der Raum zum Kuchen für alle zugänglich ist, kann es passieren, dass der Kuchen schnell weg ist. Allerdings denke ich, dass viel mehr Menschen verschiedene Kuchen bereitstellen würden. Dann gäbe es ein großes Kuchenbüffet.
Ann-Reb Thomas: Ich verstehe Theater eigentlich als politischen und kritischen Ort. Daher stelle ich mir die Fragen: Wie wollen wir kritisch mit Hierarchien umgehen? Wie können wir Zugänge schaffen? Alles Fragen, die auf der Bühne verhandelt werden, aber im Theater nicht gelebt werden.
Inklusion: Nicht nur für ein vorzeigbares Portfolio
Sophia Neises: Ausschlüsse merke ich besonders, wenn überlegt wird, welche Stücke überhaupt für blindes Publikum interessant sind und deshalb Audiodeskription bekommen sollten. Da entgegne ich meistens, dass alle Stücke potenziell interessant sind und Zugang brauchen.
Ann-Reb Thomas: Wenn ich Menschen die Möglichkeit gebe, für sich selbst zu entscheiden, ermächtige ich sie. Wenn ich den Raum aber nicht so gestalte, dass eine eigene Entscheidung möglich ist, nehme ich ihnen die Macht.
Sophia Neises: Als abhängige, hilfebrauchende Person musst du deinem Gegenüber vertrauen. Ich finde es nicht generell schlecht, um Hilfe zu bitten. Wir alle brauchen einander und unterstützen uns. Das gehört für mich auch zum Menschsein dazu. Wenn ich aber fast nie die Wahl habe, gerade Hilfe in Anspruch zu nehmen oder eben nicht, ist es nicht mehr gleichberechtigt. Wenn ich mich entscheide, keine Hilfe anzunehmen, ist die Konsequenz, dass ich nicht teilnehmen kann.
Das Thema Hilfe und Selbstdarstellung spielt auch in der Theaterpädagogik eine große Rolle. Reine Fassade ist inklusive Theaterpädagogik dann, wenn sich ein Haus damit schmückt oder einen Punkt auf der To-Do-Liste abhaken will. In inklusiven Projekten darf es nicht um Dankbarkeit gehen. Aus dieser Haltung müssen wir rauskommen und inklusive Theaterpädagogik als politischen Akt verstehen.
Ann-Reb Thomas: Hier heißt es, sich gut zu informieren, was Barrierefreiheit bedeutet. Es fehlt so oft das Wissen, dass zu Barrierefreiheit mehr als Rampen und Fahrstühle dazugehören. Es ist für ein barrierefreies Theater unabdingbar mit Expert*innen gemeinsam den Raum zu strukturieren und Menschen mit Behinderung in Leitungspositionen zu besetzen.
Sophia Neises: Mir sind im Gespräch vier Kriterien aufgefallen, zu denen sich Kunstschaffende befragen sollten:
- Habe ich ein klares Inklusionskonzept und einen Inklusionsbegriff, den ich als Institution und als Einzelperson vertrete?
- Arbeiten behinderte Menschen und ich gleichberechtigt zusammen?
- Wie spreche ich über meine Arbeit, geht es um meinen Namen oder um die Namen der Menschen, die ich qualifiziere?
- Schaffe ich Barrierefreiheit auf allen Ebenen?
»Auch ein bisschen Chaos«
Sophia Neises: Für ein inklusives Theaterprojekt wünsche ich mir, dass alle Meinungen nebeneinander existieren dürfen und es keine ableistischen Hierarchien gibt.
Konstantin Langenick: Ich wünsche mir für die inklusive Theaterarbeit weniger Bürokratie. Sie grenzt aus.
Ann-Reb Thomas: Ich wünsche mir den Mut, neue Wege zu gehen und das Gewohnte loszulassen. Ich wünsche inklusiver Theaterpädagogik auch, rebellisch zu sein. Rebellion, alles anders machen, Selbstbewusstsein, Mut, Stolz und Trotz. Auch ein bisschen Chaos.