Lügen und Täuschungen sind alltägliche Kulturtechniken, welche die zwischenmenschliche Kommunikation prägen und diese oftmals auch vereinfachen können. Das beste Beispiel hierfür ist die Notlüge, auf die jeder Mensch hin und wieder aus Scham, Höflichkeit, Unsicherheit etc. zurückgreift. Allerdings haben die letzten Jahre gezeigt, dass auch in der politischen Praxis zunehmend auf Lügen zurückgegriffen wird. Zu den populärsten Lügnern gehören dabei Donald Trump und Wladimir Putin, die ihre Politik auf einem Fundament von Lügen und Täuschungen aufgebaut haben. Anders als im Privaten können die abstrusen Unwahrheiten, die von diesen verbreitet werden, jedoch schnell von der Öffentlichkeit als solche entlarvt werden, weshalb sich die Frage stellt, warum das Lügen trotzdem weiterhin ein wirksames politisches Machtinstrument darstellt. Welche katastrophalen Folgen das Lügen als politische Praxis haben kann, verdeutlicht aktuell auf erschreckende Weise der Angriffskrieg auf die Ukraine.
Lüge und Täuschung in den Zeiten von Putin, Trump & Co. ↗
»Königs Buch bietet Ressourcen nicht nur für ein tiefes Verständnis heutiger international wie national politischer Vorgänge, in denen Verschwörungsmythen, Fake-News-Behauptungen oder ganz allgemein der Lügen-Vorwurf eine zentrale Rollespielen. Es bietet auch Anlass, bestimmte Arten und Weisen der theoretischen Analyse der internationalen Politik zu hinterfragen.«
Sebastian Schindler, Neue Politische Literatur, 62 (2021)
Helmut König hat drei schnelle Fragen dazu beantwortet, welche Rolle Lügen und Täuschungen in diesem Konflikt spielen.
Lügen scheinen zum politischen Alltag zu gehören. Warum greifen Politiker*innen zu diesem Mittel?
Politiker greifen zur Lüge aus dem gleichen Grund, aus dem auch gewöhnliche Leute gelegentlich zur Lüge greifen: Weil sie sich davon bei der Durchsetzung ihrer Ziele einen Vorteil versprechen. Sie wollen damit den Konkurrenten und Gegner wehr- und hilflos und handlungsunfähig machen.
Welche Rolle spielen Lügen im Propagandaapparat von Putin? Und auf welche Weise versucht er, den Krieg in der Ukraine vor seinem Volk zu legitimieren?
Lügen und Täuschungen spielen von Anfang an, d.h. seit 1999/2000, als Putin der maßgebliche Mann des Kremls wurde, die wichtigste Rolle in seiner Herrschaftstechnik. Am Anfang der Ära Putins gab es in Russland noch Gegenstimmen, die die Lügen und Täuschungen aufdeckten und eine interessierte Öffentlichkeit erreichten. Seit 2012/2013 wurde jede Art kritischer Öffentlichkeit und politischer Opposition zunehmend abgewürgt und systematisch unterdrückt. Die Schließung der letzten unabhängigen Rundfunk- und Fernsehsender nach dem Überfall auf die Ukraine ist der Schlusspunkt dieser langen Geschichte unverhohlener Unterdrückung freier Information und Meinungsäußerung.
Die Legitimation des gegenwärtigen Krieges stützt sich auf drei Punkte:
- 1. Die vollkommen aberwitzige Geschichtskonstruktion, nach der es eine eigenständige Ukraine niemals gegeben hat und Putin mit der Vernichtung der Ukraine nur die Mission erfüllt, die ihm die Geschichte aufgibt.
- 2. Die Behauptung, dass in der Ukraine die Faschisten die Macht übernommen haben. An dieser Stelle knüpft die Kreml-Propaganda an den »Großen Vaterländischen Krieg« an, also an den Krieg gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg, den die russische Armee heute angeblich nur fortsetzt.
- 3. Der Krieg gegen die Ukraine soll eine Art von Präventivmaßnahme sein gegen die Bedrohungen durch die Nato, den Westen, besonders die USA, die in dieser Vorstellung hinter allem steht, was aus der Sicht Putins im 20. Jahrhundert falsch gelaufen ist, vor allem steckt sie hinter dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Ende der Sowjetunion 1989/1991 und hinter allen Bestrebungen, freie demokratisch-republikanische politische Ordnungen zu gründen.
Ist es vorstellbar, dass die Ukraine und Russland den Krieg auf diplomatische Weise lösen können, wenn sowohl Putins Innen- als auch Außenpolitik auf Lügen basieren? Und wie sollen demokratische Länder mit solchen autokratischen Machthabern wie Putin umgehen?
Es ist in der Tat schwer vorstellbar, wie mit einem Kriegsverbrecher und notorischen Lügner eine Art von Vereinbarung und Vertrag zustande kommen soll. Putin hat wiederholt unter Beweis gestellt, dass ihn Verträge überhaupt nicht interessieren und er ihnen keinerlei Verbindlichkeit beimisst. Seine Täuschungs- und Lügenmanöver beruhten immer darauf, das eine zu sagen und dann das Gegenteil zu machen. Deswegen besteht die einzige Möglichkeit darin, jeden Waffenstillstands- oder Friedensvertrag mit robusten Sicherheitsgarantien der westlichen Mächte zu versehen und jedes Zuwiderhandeln sofort und unmissverständlich zu ahnden. Tyrannen wie Putin respektieren immer nur die Kräfte und Staaten, von denen sie energisch und klar in Schranken gewiesen werden.

Helmut König (geb. 1950) war bis 2017 Professor für Politikwissenschaft an der RWTH Aachen. Der Mitherausgeber der Reihe »Europäische Horizonte« (transcript Verlag) sowie der Zeitschrift »Leviathan« forscht u.a. zu politischer Theorie, politischer Psychologie und Zeitgeschichte und hat zu Erinnerungskultur, Kritischer Theorie und Antisemitismus publiziert.