Der Einfall Putins in die Ukraine erscheint aus westlicher Perspektive irrational und anachronistisch. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion glaubte man alte Herrschaftsstrukturen überwunden zu haben, genauso wie die großen Narrative von Volk und Nation. Russland öffnete sich der Welt und strebte eine ökonomische und politische Modernisierung an. Wie Philipp Casula in seiner diskurstheoretischen Untersuchung zeigt, zeichnete sich Putins System von 2000-2008 durch wirtschaftliche Stabilität und Meinungspluralität aus, wodurch es ihm gelang, einen Großteil der russischen Bevölkerung hinter sich zu vereinigen.
Doch mit der sich zunehmend verschärfenden Krise im Inneren scheint das hegemoniale Machtgefüge zu bröckeln. Heute ist kaum mehr eine Opposition vorhanden, wer es dennoch wagt zu widersprechen, landet im Gefängnis. Doch was sich aus unserer Perspektive als irrational darstellt, könnte für Putin rational sein. Eine autoritäre, nationalistische Homogenisierungspolitik im Inneren, verbunden mit imperialen Expansionsbestrebungen nach Außen, scheint das letzte Mittel, sein Land, aber vor allem sich selbst, zu früherer Stärke zurückzuführen.
Wie rational ist diese Politik wirklich? Wie hängt Putins Politik mit der Krise zusammen und wie realistisch ist die Hoffnung auf ein modernes Russland heute?
Putin wird in einigen Medien als einer beschrieben, dessen Handlungen nicht mehr rational begründbar sind. Teilen Sie diese Einschätzung?
Angesichts der Machtfülle des russischen Präsidenten ist es nicht verwunderlich, dass viele Medien sich sehr auf dessen Person konzentrieren und fragen, ob dessen Handlungen rational begründbar sind. Der Fokus auf seine Person allein greift meines Erachtens aber zu kurz. So war es auch ein Ziel meines Buches aufzuzeigen, in welchem Machtgefüge und welchem System der Präsident eingebettet ist und ihn in seinen ersten Amtszeiten 2000-2008 gestützt haben. Auch in der aktuellen Lage sollte sich der Blick auf das politische System als Ganzes richten. Handelt dieses System also rational? Und rational im Hinblick auf was? Auf die Mittel oder auf die Ziele?
Da der Westen den Krieg als Mittel der (europäischen) Politik ausschließt, verurteilen wir den russischen Angriffskrieg zurecht als menschenverachtend und irrational. In der Logik des Kremls und im Hinblick auf den kurzfristigen Machterhalt des Systems kann er aber durchaus »rational« erscheinen. Langfristig kann aber kein Zweifel bestehen, dass dieser Krieg dem russischen politischen System und der russischen Gesellschaft schweren Schaden zufügt, politisch, ökonomisch und sozial. Nicht zuletzt das Ansehen des Landes ist massiv und nachhaltig geschädigt. Die ersten Leidtragenden des Krieges sind aber natürlich die Menschen in der Ukraine selbst.
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kämpft Russland um seine Identität. Welche Entwicklungen sehen Sie, mit denen Putins Entscheidung für den Krieg erklärt werden könnten?
Identitätsfragen stehen in Bezug auf Russland oft im Fokus. Vor dem Hintergrund des rund 30 Jahre zurückliegenden Zusammenbruchs der Sowjetunion wird die russische nationale Identität als »in der Krise« wahrgenommen. Dabei gilt für alle Gesellschaften, dass Identitäten nie fix und unveränderlich sind. In meinem Buch ging es u.a. genau darum, wie zwischen 2000 und 2008 das russische politische Spektrum verschiedenen Identitäten in Russland Raum gelassen hat, demokratischen und nationalistischen,
protektionistischen und globalisierungsfreundlichen.
Seitdem hat sich das politische Spektrum immer mehr eingeengt und modernisierungsfreundliche und westorientierte Positionen sind verstummt. Insofern dominiert im heutigen Russland eine nationalistische Identität mit territorialen Ansprüchen, die der westlichen Welt und ihren Werten ablehnend gegenüber steht, und welche die Macht und das Territorium Russlands bedroht sieht. Dieser Nationalismus muss als Legitimationsgrundlage herhalten, um eine Politik zu begründen, die einzig auf Machterhalt abzielt und Krieg als Mittel nicht ausschließt. Das zeigt sich nicht zuletzt in der von Propaganda dominierten Medienwelt. Dass aber in der Ukraine z.B. keine »Faschisten« an der Macht sind, die Russland bedrohen, das weiß die russische Machtelite sehr genau.
In westlichen Medien keimt die Hoffnung auf einen Sturz Putins von Innen, auf die »vernünftigen Menschen«, die ihn stoppen. Wie realistisch ist diese Hoffnung?
In den beiden Amtszeiten 2000-2008 ist es gelungen, mit populistischen Elementen eine Hegemonie aufzubauen, die nicht nur auf Zwang, sondern auch auf Zustimmung beruhte. Verschiedenste Strömungen wurden im politischen Diskurs eingebunden und immer wieder bedient. Eine so geartete Hegemonie besteht heute nicht mehr. Heute wird der Konsens erzwungen. Wer öffentlich abweicht, wird weggesperrt. Es gibt zwar natürlich viele vernünftige Menschen in Russland, nicht zuletzt jene, die mutig gegen den Krieg
protestieren, aber keine alternativen Eliten, die das bestehende System stürzen könnten oder dies wollten. Wer nicht direkt materiell an das herrschende System gekoppelt ist, der glaubt vielleicht der Propaganda; wer dennoch anders denkt, fürchtet die Repression oder verlässt nach Land, in Richtung Westen oder in Länder wie Armenien, Georgien oder Usbekistan.

Hegemonie und Populismus in Putins Russland ↗
Eine Analyse des russischen politischen Diskurses
»Casulas hegemonietheoretisch informierter Post-Transition-Ansatz entgeht dem impliziten Normativismus der traditionellen Transitionsforschung und trägt der Ergebnisoffenheit, der Prekarität und der Komplexität politischer Wandlungsprozesse Rechnung.«
Marius Hildebrand, Portal für Politikwissenschaft, 24.07.2014