Schöner lesen/leben
Personalisierung kann sich in Lesediskursen unterschiedlich artikulieren. Ich kann das Buch wie einen Freund, und das solitäre Lesen wie ein geselliges Gespräch behandeln – in beiden Fällen werden Mensch-Ding-Interaktionen anthropomorphisiert und Prozesse der Informationsverarbeitung humanisiert. In vielen Leseratgebern sind zudem Strategien zu erkennen, die soziale Akteure und ihre Praktiken individualisieren: Hier werden verallgemeinernde Beschwörungen des Lesens mit Hilfe von Ich-Erzählungen authentisiert.
Szenen des Lesens ↗
Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung
Viele beschwören das Lesen als unverzichtbare Kulturtechnik – aber was wissen wir eigentlich über diese soziale Praxis? In der Gegenwart kann man das Lesen in vielen Kontexten beobachten, die dieser Essay zu exemplarischen »Szenen« arrangiert: Wird schnell oder langsam, einsam oder gemeinsam gelesen? Suchen wir in Lektüren Neues oder Bekanntes; füllen wir Wissensspeicher oder überlassen uns dem Eigensinn von Textwelten? Und worin besteht für wen die Lust am Lesen? Julika Griem erprobt, wie sich Lesemotive, -fähigkeiten und -technologien zwischen Instagram und Proseminar, Bibliotherapie und Blinkist als soziale Anordnungen so beschreiben lassen, dass eingespielte Bewertungsmuster hinterfragt werden.
»Books sell things other than books«, hieß es bei Leah Price. Auf vielen aktuellen Schauplätzen zeigen sich das Lesen und die Lesenden in einem Modus der Besonderung, der auch in Innenarchitektur, Design und Mode, Tourismus, Kulinarik und Wellness zu beobachten ist und von Lucien Karpik und Andreas Reckwitz in Form von »Ökonomien des Einzigartigen« bzw. Märkten singularisierender Kulturalisierung analysiert worden ist. Gerade in einer demokratisch und marktwirtschaftlich organisierten Kommunikation über Lesepraktiken kommt es nicht nur auf Anschließbarkeit, sondern ebenso auf Unterscheidung an, um Selbstkultivierung auch über das Lesen identitätsstiftend zu gestalten.
Es lohnt sich daher, einzelne Leseprodukte ebenso anzuschauen wie Leseszenen, die sich als Waren- und Erlebniswelten darbieten. Die Ästhetik solcher Zusammenhänge bewährt sich als alltagstaugliches Wissen um den sinnstiftenden Gebrauch von Dingen wie z.B. auch Büchern. In diesen Assemblagen stellen das Einzelne und das Ensemble, das Spezielle und das Verbindende keine unversöhnlichen Gegenpole dar. Sie markieren vielmehr Subjektivierungs- und Sozialisierungseffekte einer umfassend kulturalisierten Gesellschaft. Als Bestandteil von Warenwelten mit Weltbildpotential versprechen Bücher individualisierte Lebenshilfe und Lebenskunst, was sich beispielsweise in Bildbänden besichtigen lässt, die ihre Leserinnen in bibliophilen Interieurs schwelgen lassen. In vielen neueren Leseszenen zeigen sich veränderte Formen der Selbstkultivierung: Hier emanzipiert man sich von bürgerlichen Vorgaben der Gründlichkeit und des Geschmacks, der Werkorientierung und Bildung. Andreas Reckwitz hat darauf hingewiesen, dass Waren und Praktiken nicht nur »kulturelle Legitimation,« sondern auch »affektive Motivationsquellen« liefern, die Stimmungen und Atmosphären zu Erlebniswelten verdichten. Gerade im Netz artikulieren sich solche Welten als volatile Stil- und Geschmacksgemeinschaften. In diesen affective communities geht es um subjektivierendes Lesen, aber auch um kollektive Identitätsstiftung; um die Singularisierung innerhalb von und mit Hilfe von Gruppen von Leserinnen.
Die kollektive Verständigung über das Lesen hat ihre eigene Geschichte z.B. in Lektürezirkeln und Buchclubs. In der digitalen Kommunikation über das Lesen eröffnen sich weitere Möglichkeiten, um über große Distanzen hinweg ins Gespräch zu kommen: Blogs mit Namen wie »Die Liebe zu den Büchern« oder kollektive Initiativen wie »The Slow Burn« knüpfen an gesellige Traditionen an und bieten Gelegenheiten für teilbare Lektüreerfahrungen. Sie erweitern und verändern aber auch das Spektrum der Möglichkeiten, sich mit Hilfe des Themas Lesen über anderes auszutauschen und einer Öffentlichkeit zu präsentieren.
In anderen Kontexten verwandeln sich Lektüren und Literatur noch deutlicher in Accessoires. Als literarisch motivierte Fashionista hat sich bei der Inaugurationsfeier des neuen amerikanischen Präsidenten im Januar 2021 auch die junge afroamerikanische Lyrikerin Amanda Gorman präsentiert, die ihr Gedicht »The Hill We Climb« zur Vereidigung Joe Bidens rezitierte. Gorman leuchtete mit einem sonnengelben Mantel von Prada und einem roten Haarreifen, und sie trug Schmuck, der in der überbordenden Kommentierung ihres Auftritts schnell als ein Geschenk Oprah Winfreys identifiziert wurde, der kommerziell erfolgreichen und politisch einflussreichen Repräsentantin einer Leseberatung als Lebenshilfe.
Mit Gormans Rezitation vor einem Millionen-Publikum kam es zu einer Aufführung von Literarizität, die den Akt des Lesens in verschiedener Hinsicht rekonfigurierte: Von ihrem Gedicht waren in den Wochen nach der Inauguration nur schnell angefertigte Transkripte verfügbar – und eine schriftliche ›Originalfassung‹ wurde vermutlich nur von traditionell gesinnten Kritikern gewünscht, die sich fragten, welches ›Werk‹ hier eigentlich vorliege. Für die meisten begeisterten Zuschauerinnen trat der lyrische Text in den Hintergrund, weil Gorman ihr Publikum durch Rhythmus und Gesten, Mimik und Ausstrahlung faszinierte. In dieser aktuellen Variante des Zeigens von Literatur und Belesenheit stand somit eine mündlich geprägte Performanz im Vordergrund, in der der Gehalt und die Form des geschriebenen Textes hinter der Anmutung und Ausstattung der Vortragenden zurücktraten. Und ein begeistertes Publikum ließ sich weniger vorlesen als vorsprechen, was Gebrauchslyrik als politische Rhetorik im aktuellen amerikanischen Kontext leisten kann.
Amanda Gormans wirkmächtiger Vortrag lebte vom Einsatz von Accessoires wie auch von Stimmungs-Management. Und von der über Bildschirme geschickten Suggestion, dass in ihrem Gebrauch der zweiten Person Plural viele Aufbruchswillige so eingeschlossen wurden, dass sie sich persönlich angesprochen fühlten.