Friedensgutachten 2020 / Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa

BICC / HSFK / IFSH / INEF

Die Corona-Pandemie hält die Welt 2020 in Atem. Sie verschlingt ungeahnte Ressourcen und hat weitreichende politische Interventionen in das gesellschaftliche Zusammenleben zur Folge. Gerade in fragilen Weltregionen drohen sozioökonomische Verwerfungen und politische Unruhen. Eine globale Pandemie braucht globales Handeln, in der Reichweite und im Design. Der EU kommt dafür besondere Verantwortung zu. Wenn die derzeitigen Krisen kooperativ bewältigt werden, bietet dies auch Chancen für die Welt „danach“. Im Schatten der Pandemie sind zugleich andere Friedensgefährdungen aus dem Blick geraten oder verschärfen sich. Auch diese müssen im Blick behalten und bekämpft werden.

Zivilgesellschaft in der Verantwortung. Drei Spannungsfelder von Solidarität in der Krise

Cornelia Springer

Während bestehende zivilgesellschaftliche Engagements durch die Corona-Krise und den Rückzug ins Digitale an Reichweite verloren haben, hat die Pandemie auch neue Formen wie kontaktlose Nachbarschaftshilfe, ehrenamtliche Online-Nachhilfe oder digitales Quarantainment hervorgebracht. Doch auch Egoismen und antisoziales Verhalten in ungekanntem Ausmaß werden im kollektiven Gedächtnis erinnert werden. Nicht zuletzt mahnen die vorher undenkbaren Allianzen auf Corona-Protesten, dass die politische und gesellschaftliche Verantwortung der*s Einzelnen über die Verteidigung der eigenen Interessen und Freiheiten hinausreicht.

Fragile Ernährungskulturen im Spiegel der Corona-Pandemie

Lars Winterberg

Fleisch – einst Symbol für Fortschritt – gilt heute als ungesund und gefahrvoll. Man fürchtet Tierleid und Umweltzerstörung, »Antibiotika-« und »Gammelfleisch«. Doch der Hunger auf Fleisch begründet keine »Ursünde«, welche uns Seuchen wie Covid-19 beschert. Die Pandemie führt uns allerdings vor Augen, was historisch der Normalfall war: Mangel, existenzielle Risiken und Vulnerabilitäten. Es gilt, die Nebenfolgen unseres (post-)modernen Lebens zu bedenken sowie Nachhaltigkeit und Resilienz als zentrale Fluchtpunkte gesellschaftlichen Handelns zu etablieren.

Endstation Solidarität? Sprachliche Einwürfe zum gesellschaftlichen Zusammenhalt zwischen »Systemrelevanz« und Kriegszustand

Simon Scharf

Wenn Solidarität in der Corona-Krise mehr als eine Worthülse sein soll, gilt es Begriffe wie Systemrelevanz und Heldentum kritisch zu betrachten. Wenn man sich nicht mehr darüber im Klaren ist, dass eine verflochtene Gesellschaft die Systemrelevanz aller konstitutiv voraussetzt, kann man den Begriff auch so weit aushöhlen, dass er lediglich abgrenzende und kompetitive Grenzlinien zwischen wichtigen und nicht-wichtigen Berufsgruppen einzieht. Über neue Formen des solidarischen Sprechens nachzudenken, bedeutet für die Zukunft vor allem, den Einzelnen politisch als mündig-kooperative(n) Bürger*in zu adressieren und ihn bzw. sie nicht mit einfachen Polaritäten und kriegerisch simplifizierender Rhetorik abzuspeisen, sondern Komplexität und Unsicherheit zuzumuten – jenseits von Angst und Strategie.

Hoffnung im Ausnahmezustand. Über Abwägung, Angstmanagement und Aktivismus

Fred Luks

Hat die Krise auch was Gutes? Wieviel Optimismus ist angemessen? Menschen, die den Umbau der Gesellschaft herbeisehnen, sehen die Krise als Chance für Klimaschutz, Achtsamkeit und Entschleunigung. Die Politik wirkt wieder handlungsfähig, die Wissenschaft wird erhört. Doch die Corona-Krise hat auch die Risiken wissenschaftsbasierter Politikinterventionen deutlich gezeigt. In frappanter Weise wurde selektiv vorgegangen – trotz massiver Auswirkungen der getroffenen Maßnahmen dominierten Virologen und Medizinerinnen das Feld, während soziologisches, pädagogisches und wirtschaftswissenschaftliches Wissen deutlich unterrepräsentiert wirkte. Hoffnung für die Zukunft kann es nur geben, wenn aus diesen Mängeln gelernt wird.

Die Schule des Vergleichens

Angelika Epple

Die Corona-Pandemie hat den Vergleich ins Zentrum gerückt. Länder, Todeszahlen, statistische Verfahren – alles wird im Komparativ adressiert. Doch das Janusgesicht des Vergleichens birgt Gefahren, denn es ermöglicht sowohl die Überbetonung der Objektivität als auch die Überbetonung der Konstruktionsleistung. In der öffentlichen Diskussion um den Corona-Virus lassen sich drei unterschiedliche Vergleichstypen ausfindig machen, die auf das Janusgesicht des Vergleichens unterschiedlich reagieren: der medizinische Typus, der politische Typus und der Typus der Verschwörungstheorien.

Die Corona-Pandemie als Phänomen des Unverfügbaren

Katharina Block

Die Erfahrung des Unverfügbaren wurde durch die Moderne mit ihrer vernunftbasierten Weltaneignung bisher überlagert und bricht sich im Zuge der Corona-Pandemie Bahn. Dieses Phänomen geht über die bisherigen Krisenerfahrungen der spätmodernen Gesellschaft weit hinaus. Unter Rekurs auf Helmuth Plessners schöpferischen Griff wird nach einer theoretischen Begründbarkeit der Chancen auf Neues gefragt.

Die Do-it-Yourself (DIY)-Community in Zeiten von Corona. Plädoyer für eine demokratisierte Daseinsvorsorge

Andrea Baier / Christa Müller

Die DIY-Community arbeitete schon vor der Corona-Pandemie im Modus der Problembewältigung. Sie experimentieren mit kleinteiligen Lösungen, z.B. für Nahrungsmittel- oder Energieproduktion, und proben das kollaborative Fabrizieren, Reparieren, Upcyclen. Kein Wunder, dass sie sich schnell am multidisziplinären Großprojekt des »Kurveflachhaltens« beteiligen konnte. Es wird Zeit, dass sich die Politik stärker öffnet für die Gestaltungskraft dieser Art von zivilgesellschaftlichem Engagement.

Gesellschaft funktioniert auch ohne anwesende Körper

Sascha Dickel

Social Distancing ist kein neues Phänomen der Corona-Pandemie, sondern gängiger Alltag unserer durch-mediatisierten Lebenswelt. Erst die krisenbedingte Problematisierung des Kommunizierens unter Anwesenden macht uns deutlich, welche Ausnahmestellung diese Form des Miteinanders längst innehat – und wie umfassend unsere mediale Sozialität bereits fortgeschritten ist.

Körper im Ausnahmezustand

Gabriele Klein / Katharina Liebsch

»Social Distancing« ist im Kern ein »Physical Distancing«. Der Beitrag skizziert aus körpersoziologischer Sicht, wie durch die Vorgabe des »Social Distancing« die intersubjektiven und kollektiven Körperverhältnisse neu justiert und Körpererfahrungen im öffentlichen und privaten Raum re-organisiert werden.

Allein solidarisch? Über das Neosoziale an der Pandemie

Stephan Lessenich

Der Erfolg des Neoliberalismus liegt nicht nur in seinen Steuerungsmedien Macht und Geld begründet, sondern auch in seiner Mobilisierung von Moral. Die Privatisierung der Sorge wird dabei mit der sozialmoralischen Integration des Gemeinwesens kurzgeschlossen und das individuelle Verhalten – auf paradigmatische Weise in Zeiten von Corona – entlang der Achse von Leben und Sterben moralisiert.

Das Virus der Nicht-Nachhaltigkeit: Findet die sozial-ökologische Transformation jetzt endlich statt?

Ingolfur Blühdorn

Die Corona-Krise exponiert die Spannung zwischen der Kritik an Ausbeutung, Ungleichheit und Exklusion und ihrer entschiedenen Verteidigung. Unbegründete Prophezeiungen einer sozial-ökologischen Transformation befestigen die Ordnung der Nicht-Nachhaltigkeit.