Ein Garten für jedes Haus und ein Bauernhof für jede Schule

Wir befinden uns mitten im sechsten großen Artensterben der Erdgeschichte. Als größtes Massenaussterben aller Zeiten gilt der Übergang vom Erdaltertum zum Erdmittelalter, bei dem nach gigantischen Vulkanausbrüchen in Sibirien beinahe alles Leben weltweit vernichtet wurde. Das große Sterben zog sich damals mindestens über Tausende von Jahre hin. Erdgeschichtlich gesehen war das ein recht schnelles Aussterben in kurzer Zeit, aber im Vergleich zu dem, was heute passiert, war es slow motion.


Anke Haarmann / Harald Lemke (Hg.)

Die Keimzelle
Transformative Praxen einer anderen Stadtgesellschaft. Theoretische und künstlerische Zugänge

Gemeinsam gärtnern und Kunst leben als utopisches Labor einer gerechten und ökologischen Stadtgesellschaft – das war die Devise des Nachbarschaftsgartens »Keimzelle« (2011-2019) in Hamburg. Die Beiträger*innen des Bandes liefern eine theoretisch fundierte wie literarisch-künstlerische Auseinandersetzung mit dem Potenzial von urbanen Räumen des Selbermachens.

Begleitet von einer sachkundigen Diskursgemeinschaft wird das Gärtnern zum Modell einer transformativen Kraft, in der Fragen des Guten Lebens greifbar werden. Und im Zusammenspiel von kritischer Wissenschaft und politischer Initiative werden die Möglichkeiten einer alternativen Stadtentwicklung deutlich. Eine Pflichtlektüre nicht nur für Commoner*innen, Konvivialist*innen und Gärtner*innen!


Ein Team um den mexikanischen Biologen Gerardo Ceballos hat untersucht, wie viele Säugetierarten in den letzten Jahrhunderten ausgestorben sind und diese Rate mit dem kontinuierlichen Werden und Vergehen von Arten in der Erdgeschichte verglichen. Die Forscher*innen sind zu dem beunruhigenden Schluss gekommen, dass die aktuelle Aussterberate bis zu hundertmal höher als die gewöhnliche Hintergrundrate liegt. Andere Forscher*innen gehen vom Tausendfachen aus. In Zukunft könnte die Aussterberate sogar zehntausend Mal so hoch sein. Doch selbst Ceballos vorsichtige Schätzungen lassen nur einen Schluss zu: Nämlich, dass wir uns tatsächlich mitten im sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte befinden.

Das große Artensterben auf unserer Erde

Erst als der Weltbiodiversitätsrat IPBES im Mai 2019 die ungeheure Zahl von einer Million bedrohter Arten verkündete, machte das Massensterben Schlagzeilen. Zwei Jahre vorher hatten die Insektenforscher*innen des Entomologischen Vereins Krefeld die Aufmerksamkeit auf das Verschwinden der Insekten gelenkt. Ihre langjährigen Untersuchungen in Naturschutzgebieten haben gezeigt, dass in den letzten 27 Jahren die Masse der Insekten um mehr als 75 Prozent abgenommen hat. Viele Studien haben diesen Befund inzwischen bestätigt: Die Insekten verschwinden – und ihr Verschwinden ist systemrelevant.

Mistkäfer durchwühlen Kothaufen und machen sie gemeinsam mit vielen anderen Organismen wieder zu Pflanzennahrung, Insekten bestäuben Blüten, die nur so zu Früchten werden, Blattläuse produzieren Nahrung für andere Insekten, die Singvögeln als Nahrung dienen und der lebendige, von Milliarden Mikroorganismen belebte Boden filtert schmutziges Wasser, aus dem wir Trinkwasser gewinnen und so weiter.

Alle diese Ökosystemleistungen schienen uns lange so selbstverständlich, so natürlich eben, dass wir uns viel zu lange nicht klar gemacht haben, dass ein ganzes Netz von unterschiedlichen Lebewesen daran beteiligt ist und dass wir gut daran täten, dieses Netz nicht aus Unkenntnis zu zerreißen. Oder eher: gut daran getan hätten. Denn obwohl die Warnungen der Wissenschaftler immer lauter werden und immer verzweifelter klingen, zerstören Menschen auf der ganzen Welt weiter Ökosysteme und vernichten die Vielfalt, die sie zum Überleben brauchen. Angesichts dieser globalen Katastrophe mag es wahnwitzig sein, einen Garten als ›Keimzelle der Hoffnung‹ zu bezeichnen. Doch ist er genau das.

Ein Garten als Keimzelle der Hoffnung

In einem kleinen Wald in der Nähe von Münster gibt es einen winzigen Fleck Erde, der zu einem der letzten Rückzugsorte des Kleinen Heidegrashüpfers geworden ist – einer unscheinbaren und sehr selten gewordenen Heuschreckenart, die früher zu den Allerweltsarten zählte, keine zwei Zentimeter lang, grün mit braunen oder gelblichen Streifen. Dass der Kleine Heidegrashüpfer hier überleben kann, verdankt er einer Kooperation von Soldaten und Naturschützern. Die Militärs hatten ehrenamtlichen Naturschützern vom Naturschutzbund NABU gestattet, an dieser Stelle Bäume zu fällen und alle Büsche zu entfernen. Damit hatten sie auf wenigen Quadratmetern die lichte offene Heidelandschaft wiederhergestellt, die die Heidegrashüpfer zum Überleben brauchen. Insekten, die nicht große Sprünge und weite Flüge machen, die standorttreu sind wie der Kleine Heidegrashüpfer können auch an kleinen Rückzugsorten überleben. Genau das kann selbst kleine Flecken Erde so wichtig machen. Und deshalb kann auch jeder Garten, der alte Kulturlandschaft erhält oder wiederherstellt, eine Keimzelle der Hoffnung sein.

Aber es gibt noch einen weiteren wichtigen Grund für die große Bedeutung von kleinen Gärten, und das ist die desolate Lage unseres Ernährungszustands. Es gelingt uns Bewohnern der westlichen Industrienationen nämlich, uns so schlecht zu ernähren, dass immer mehr von uns krank vom Essen werden – mitten im Überfluss. Längst schlagen Krankenkassen, Kinderärzt*innen, Ernährungsmediziner*innen und Verbraucherschützer*innen Alarm: Immer mehr Menschen würden immer früher krank durch falsche Ernährung; zu süß, zu salzig und zu fettig, zu wenig Ballaststoffe. Man könnte auch sagen: zu viel Supermarkt und zu wenig Garten, zu viel Welthandel mit commodities, austauschbaren Agrarrohstoffen und zu wenig frisches Gemüse, aus dem Garten direkt in die Küche.

Monotone und einseitige Ernährung

Die Ernährungsindustrie braucht keine große Vielfalt auf kleinem Raum, sondern große Spezialbetriebe, die sich auf wenige Früchte konzentrieren. Die Welt hat in den letzten Jahrzehnten einen unfassbaren Schwund der Vielfalt der Kulturpflanzen erlebt: Zwei Drittel der gesamten Welternte stammt von neun Pflanzen: Zuckerrohr, Mais, Reis, Weizen, Kartoffeln, Sojabohnen, Ölpalmen, Zuckerrüben und Manoik.

Seit 1900 sind in Mexiko achtzig Prozent der Maissorten verlorengegangen, in Indien neunzig Prozent der Reissorten, in den USA neunzig Prozent der alten Gemüse- und Fruchtsorten verschwunden. Dabei gibt es rund 382 000 verschiedene Pflanzenarten auf der Welt, und mehr als 6000 davon haben die Menschen kultiviert, um daraus Lebensmittel zuzubereiten, doch nur neun davon füllen zwei Drittel unserer Teller. Durch diese monotone und einseitige Ernährung geht nicht nur die Vielfalt der kultivierten Arten verloren, sondern auch die Diversität der vielen Sorten, die die Menschen im Laufe der Jahrtausende aus den wilden Arten gezüchtet haben. Auch deshalb kann ein kleiner Garten in der Stadt, in dem ein paar dieser alten Sorten wieder angebaut werden, eine Keimzelle der Hoffnung sein.

Wir brauchen überall Lernorte für die Vielfalt des Lebens

Es wird viel geklagt über die kognitive Schieflage an den Schulen in Deutschland, über verdichtete Lehrpläne, erschöpfte Lehrkräfte und demotivierte Schüler*innen. So fordern viele Lehrer*innen und Forscher*innen mehr Anschauung im Unterricht und außerschulische Lernorte. Immer mehr Schüler*innen bleiben über Mittag in der Schule, doch das Essen, das sie dort bekommen, ist oft weder gesund noch nachhaltig. Pädagogen suchen außerdem nach Wegen, den Auftrag der Vereinten Nationen zu erfüllen und den Schüler*innen Bildung für die nachhaltige Entwicklung zu vermitteln. Damit sie nicht nur lernen, Kompetenztests zu bestehen, sondern auch, wie sie in Zukunft unter den Bedingungen des Klimawandels, des Artensterbens und der Ressourcenknappheit leben können. Jeder Schule einen eigenen Garten – oder besser noch: einen ganzen Bauernhof – zu geben, hieße, alle diese Mängel auf einen Schlag zu beheben. Die Schüler*innen hätten den Hof als außerschulischen Lernort, für Versuche zur Photosynthese auf dem Gemüsefeld ebenso wie zur Voluminaberechnung in der Mathematik im Kornspeicher. Sie könnten Ethik und Tierrechte vor dem Kuhstall besprechen, Hauswirtschaftslehre in der Küche, und auf den Feldern die biologische Vielfalt schützen.

In Deutschland gibt es über 30 000 allgemeinbildende Schulen. Durch sie könnten beinahe ebenso viele Höfe eine ganz besondere Aufgabe erhalten, nämlich die, gemeinsam mit den Schüler*innen Lebensmittel für ihre Schulen zu produzieren, ihnen dabei Erfahrung und Wissen im Umgang mit Tieren, Natur und Umwelt zu vermitteln und sie Eigenverantwortung zu lehren. Die Schüler*innen könnten sogar, ähnlich wie in der solidarischen Landwirtschaft, zusammen mit den Landwirten Anbaupläne für das kommende Schuljahr erstellen und würden dabei lernen, was natürliche Grenzen sind, wie oft es Pommes geben kann, wenn der Kartoffelacker so oder so groß ist, und dass Kühe nicht nur aus Steak bestehen. Und dort, wo der Platz nicht reicht für einen Bauernhof, dort wäre ein Garten ein Anfang. Eine Keimzelle.