»Klimamigration« ↗
Wie die globale Erwärmung Flucht und Migration verursacht
»Die Auswirkungen des Klimawandels werden in Deutschland, Europa und im Rest der Welt immer sichtbarer. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie Politik und Gesellschaft mit dieser riesigen Herausforderung umgehen sollen, wird immer bedeutender und kontroverser. Ähnliches gilt für die Herausforderungen der Migration. Das Thema der ›Klimamigration‹ ist höchst bedeutend, da es an der Schnittstelle zwischen diesen beiden enormen Herausforderungen angesiedelt ist.«
Benjamin Schraven
Der Klimawandel ist da. Die durch Starkregen verursachte Flutkatastrophe, die Teile von Nordrhein-Westfalen und Rheinland Pfalz im Juli 2021 heimsuchte und über 100 Menschen in den Tod riss, führte vielen Deutschen vor Augen, dass die Auswirkungen des Klimawandels keineswegs mehr nur eine abstrakte und ferne Zukunftsversion sind. Nun wurde nicht wenigen schlagartig klar, dass die Folgen der globalen Erwärmung auch sie jederzeit treffen könnten und dass Starkregenereignisse oder Dürresommer in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wohl immer häufiger auftreten und auch immer heftiger ausfallen werden. Der Blick über den deutschen und europäischen Tellerrand hinaus bot für das Jahr 2022 ebenfalls ein verstörendes Bild hinsichtlich der Auswirkungen der Erderwärmung: Schwere Waldbrände in den USA mit unzähligen zerstörten Häusern, eine massive Hitzewelle in Indien und Pakistan, die wahrscheinlich tausenden Menschen das Leben kostete, oder über 400 Tote nach verheerenden Überschwemmungen in Südafrika (vgl. Dähn 2022; Prasuhn 2022). Rekordtemperaturen in Deutschland zum Jahreswechsel 2022/2023 wirken im Vergleich dazu zwar weniger dramatisch, bestätigen im Endeffekt aber den Eindruck, dass mit dem Klima irgendetwas nicht mehr stimmt (vgl. WDR 2023). Die düster-bedrohlichen Bilder schmelzender Gletscher, abgebrannter Wälder oder von überschwemmten Siedlungen begleiten deutsche und europäische Medienkonsumenten und -konsumentinnen aber schon deutlich länger.
Der Zusammenhang zwischen Klima und Migration ist sehr komplex. Migration wird von sehr vielen Faktoren beeinflusst, und der Klimawandel ist meist nur einer davon. Es ist daher fast immer sehr schwierig festzustellen, welcher Faktor für eine Wanderungsbewegung nun der entscheidende oder hauptausschlaggebende war. Die meisten Menschen bewegen sich innerhalb von ihren Herkunftsländern oder zwischen Nachbarländern. Um größere Distanzen zu überwinden, fehlen den Hauptbetroffenen des Klimawandels schlichtweg die notwendigen Ressourcen. Apokalyptische Erwartungen eines (hundert-)millionenfachen Ansturms von »Klimaflüchtlingen« in Richtung Europa sind daher bis auf weiteres unwahrscheinlich. Dies bedeutet nicht, dass die Auswirkungen des Klimawandels auf Migration und Flucht »schon nicht so schlimm« ausfallen werden. Allein schon aufgrund des zu erwartenden Anstiegs des Meeresspiegels werden innerhalb der nächsten Jahrzehnte Millionen von Menschen weltweit ihre Heimstätten langfristig verlassen müssen. In diesem Zusammenhang wird auch das Thema der geplanten Umsiedlungen immer wichtiger werden. Allerdings müssen wir davon ausgehen, dass Flucht, Migration und Umsiedlungen sich auch zukünftig vor allem innerhalb der besonders vom Klimawandel betroffenen Länder und Weltregionen abspielen werden. Gerade Städte müssen sich auf (mehr) klimabezogene Mobilität einstellen. Aber schon heute sind städtische Infrastrukturen aufgrund von Bevölkerungszuwachs und den Auswirkungen des Klimawandels stark belastet. Auf der anderen Seite wird eine andere Folge des Klimawandels, nämlich die erzwungene Immobilität (also das Gegenteil von Flucht und Migration), sicherlich immer gravierender werden. Insgesamt haben wir es mit einer ganzen Reihe von offenen Fragen zu tun: Wie genau werden sich Wanderungsbewegungen im Kontext des Klimawandels in Zukunft gestalten? Wie viele Menschen werden genau ihre Heimat verlassen? Welche gesellschaftlichen oder politischen Auswirkungen werden diese zukünftigen Mobilitätsprozesse haben? Diese Fragen können wir nur vage beantworten.
Die konkreten politischen Herausforderungen der Zukunft sind groß und vielfältig. Viele Menschen werden etwa Unterstützung bei der Umsiedlung benötigen. Nur wenige Regierungen sind bisher darauf vorbereitet. Vor allem die besonderen Gefährdungen und Bedürfnisse vulnerabler Bevölkerungsgruppen müssen stärker in den Fokus internationaler und nationaler Politik rücken, denn sie sind zum Teil extremen Risiken aufgrund der Folgen des Klimawandels ausgesetzt. Auf der einen Seite muss gerade die internationale Arbeitsmobilität stärker auf sie ausgerichtet werden. Einkünfte bzw. Remittances aus internationaler Mobilität, selbst in gering qualifizierten Berufen, haben das Potenzial, die Anpassung an den Klimawandel entscheidend zu beeinflussen. Dazu muss es aber auch einen erleichterten Zugang für gefährdete Bevölkerungsgruppen zu diesen Arbeitsmärkten geben. Generell sollten weltweit Freizügigkeitsabkommen weiter vorangetrieben werden, ebenso wie die Möglichkeiten etwa von humanitären Visa oder anderen humanitären Einreisemodellen. Auf der anderen Seite muss auch der Schutz von Menschen – und insbesondere Migrierenden und Geflüchteten – vor Ausbeutung dringend verbessert werden. Das positive Potential von Arbeitsmobilität für Klimaanpassung und nachhaltiger Entwicklung weltweit wird von ausbeuterischen Praktiken und generell schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen massiv gefährdet. Wenn es um die Bewältigung der großen Herausforderungen des Klimawandels und der menschlichen Mobilität für urbane Gebieten bzw. Zuzugsgebieten geht, gilt es, städtische oder kommunale Akteure besser in politische Entscheidungen auf nationaler, aber auch internationaler Ebene einzubinden und ihnen einen besseren Zugang zu finanziellen und technischen Ressourcen zu gewähren (vgl. Roderick et al. 2021). Und das sind nur einige Dinge, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten unbedingt in Bewegung gesetzt werden müssen.
Europa steht in einer besonderen Verantwortung, sich bei diesen Herausforderungen zu engagieren, denn es ist Teil des globalen Nordens. Dieser hat einen Großteil der weltweiten Treibhausgasemissionen seit dem späten 18. Jahrhundert ausgestoßen und so den menschengemachten Klimawandel zum größten Teil verursacht. Zudem hat der globale Norden durch Kolonialismus und eine vor allem die reichen Industrieländer begünstigenden globalen Wirtschaftsordnung maßgeblich dazu beigetragen, dass vor allem Menschen im globalen Süden durch Überschwemmungen, Dürren und andere Folgen des Klimawandels gefährdet sind. Zugleich wird auch der wissenschaftliche Diskurs zum Thema Klimawandel und menschliche Mobilität immer noch sehr stark von Institutionen bzw. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des globalen Nordens bestimmt. Klimagerechtigkeit bzw. globale Gerechtigkeit sind gewichtige Argumente dafür, die Länder, Regionen und Gesellschaften des globalen Südens mehr zu unterstützen und – über Lippenbekenntnisse hinaus – zu einer tatsächlichen Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu kommen. Aber es liegt auch im ureigensten Interesse Europas, dass Regionen in der europäischen Nachbarschaft bei der Bewältigung (nicht nur der mobilitätsbezogenen) Folgen des Klimawandels unterstützt werden. Denn der Klimawandel kann potenziell destabilisierend auf Länder und ganze Regionen wirken. Zwar führt der Klimawandel sicherlich nicht automatisch und überall zu mehr Konflikten und Krisen, aber das Risiko, dass dies vermehrt in mittel oder unmittelbarer Nähe des alten Kontinents passiert, sollten die europäischen Entscheidungsträgerinnen und -träger nicht einfach unbedarft aussitzen.
Politik und Gesellschaft wären gut beraten, eine insgesamt rationale und besonnene Einstellung zum Thema Migration zu entwickeln. Dazu würde einerseits gehören, alarmistische Bedrohungsszenarien zu vermeiden. Andererseits wäre es auch nicht hilfreich, Migration als ein Allheilmittel für bestehende Probleme einer Gesellschaft zu betrachten. Zu diesen Problemen zählen in Deutschland und anderen Industrieländern nicht zuletzt die Herausforderungen, die eine immer älter werdenden Gesellschaft mit sich bringt wie Fachkräftemangel oder die unsichere Zukunft des Rentensystems. Auch für die Menschen, die sich auf den Weg machen (müssen), sind bessere wirtschaftliche Perspektiven, eine Unterstützung von Verwandten in den Herkunftsländern, Schutz vor Repression, Konflikten und Instabilität oder eben auch die Erwartung, weniger den Auswirkungen des Klimawandels ausgeliefert zu sein, keine Selbstläufer. Die Erfahrungen von Ausgrenzung oder die schmerzhafte Trennung von Familien oder Freunden machen Migrierende und Geflüchtete weltweit. Entscheidend ist für alle Beteiligten daher der Wille, Mobilität so zu gestalten, dass negative Aspekte minimiert und positive Aspekte gefördert werden. Dafür braucht es allerdings einen kühlen Kopf und die Bereitschaft Zuwanderung zu gestalten. In anderen Worten: Geld und Energie müssen aufgebracht werden, um Migrierende und Geflüchtete, in die Lage zu versetzen, ihr Potenzial optimal einzusetzen.
Benjamin Schraven (Dr.), geb. 1978, ist Entwicklungsforscher und berät als Migrationsexperte unter anderem die Europäische Union, die Vereinten Nationen und die Internationale Organisation für Migration (IOM) in Fragen zu Flucht und Migration. Daneben ist er Associate Fellow des German Institute of Development and Sustainability (IDOS) sowie des Zentrums für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn. Schwerpunktmäßig befasst er sich mit den Zusammenhängen von globaler Erwärmung und Migration, wozu er bereits in diversen Formaten publiziert hat.
Quellen
Dähn, Astrid (2022): »Der Weltuntergang naht – oder vielleicht auch
nicht«, in: Klimareporter (25.02.2022), https://www.klimareporter.de/gesellschaft/der-weltuntergang-naht-oder-vielleicht-auch-nicht (22.10.2022).
Prasuhn, Hannah (2022): Die Hitzewelle in Indien könnte tausende Menschen töten, https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/klimaforscher-warnen-die-hitzewelle-in-indien-koennte-tausende-menschen-oeten/28343894.html (15.01.2023).
Roderick,William et al.(2021): Cities, climate andmigration:The role of cities at the climate-migration nexus. New York: C40/Mayors Migration Council.