Tanja Köhler

Tanja Köhler

ist promovierte Kommunikationswissenschaftlerin und Redaktionsleiterin Nachrichten Digital in der Abteilung »Zentrale Nachrichten« des Deutschlandfunks. Sie hat Bücher und Aufsätze u.a. zu den Themen digitaler Journalismus, Netzaktivismus sowie Unternehmens- und Krisenkommunikation veröffentlicht.

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Journalismus machen deutlich, dass eine Krise nicht per se ein rein negativ verlaufendes Ereignis darstellt, sondern auch die Chance zur Systemverbesserung birgt: Der Datenjournalismus läuft in der Krise zur Höchstform auf. Mittels interaktiver Grafiken und Time-Lines werden die Entwicklungen von Neuinfektionen und Testzahlen beschrieben und die Ausbreitung des Virus verdeutlicht. Sender und Verlage zeigen mehr Mut zum Experiment und mehr Bereitschaft zu (neuen) digitalen Erzählformaten: Aufwendige Video-Analysen erklären den »R«-Wert, die Schwierigkeiten bei der Impfstoffsuche und wie sich Arbeitsbedingungen verändert haben. Comics analysieren Übertragungswege und Infektionsketten, News-Blogs wurden noch nie so lange am Stück betrieben.

Auch die Selbstreflektion spielt eine größere Rolle; Transparenzstrategien und der Nutzerdialog werden ausgeweitet. Denn: Zuschriften von Nutzerinnen und Nutzern haben in der Krise stark zugenommen. Das Feedback reicht von Korrekturhinweisen über Themenvorschläge bis hin zu Fragen zur Berichterstattung, die nicht selten in diese zurückfließen.

Schließlich sind auch die redaktionellen Abläufe betroffen: Durch die Ausweitung des Home Office experimentieren Sender und Verlage – gezwungenermaßen – auch mit neuen Organisationsformen, Workflows und Arbeitsroutinen. Das geht nicht ohne Schwierigkeiten und Reibungsverluste, denn wenn Menschen nicht mehr gemeinsam im Großraum arbeiten, entfällt der direkte Draht, was unter Umständen die Themenschärfung schwieriger macht.


Bedürfnis nach seriösen Informationen

Nicht zuletzt hat die Corona-Krise wieder ins Bewusstsein gerufen, wie systemrelevant der Qualitätsjournalismus und Journalistinnen und Journalisten für Demokratien sind. Dies ist keine Selbstverständlichkeit, wenn man sich die Lügenpresse- und Fake-News-Vorwürfe der vergangenen Jahre vergegenwärtigt.

Die Corona-Pandemie hat auch dafür gesorgt, dass der Medien-, insbesondere der Nachrichtenkonsum stark zugenommen hat. Denn in Krisenzeiten steigt das Bedürfnis vieler Menschen nach seriösen, verlässlichen Informationen. Davon profitieren in besonderem Maße öffentlich-rechtliche Angebote, aber auch viele andere klassische Medien.


Steigende Digital-Abos bei gleichzeitigem Stellenabbau

Doch während die Nachfrage nach Informationsjournalismus und damit Abrufzahlen und digitale Verkäufe steigen, sinken die Anzeigenerlöse, die ihn mitfinanzieren, teils um bis zu 80 Prozent. Die Paradoxie der Krise zeigt sich hier besonders deutlich. Zwei Beispiele: Bei der Süddeutschen Zeitung stieg die Zahl der Digital-Abos in diesem Jahr bereits auf 150.000, doppelt so viele wie noch vor einem Jahr. Gleichzeitig will der Verlag ein Zehntel der Stellen abbauen. Ähnlich ergeht es der Neuen Zürcher Zeitung: Die Zahl der Digital-Abos stieg in der Pandemie um über 30 Prozent, geplant ist ein mittelfristiger Stellenabbau in der NZZ-Mediengruppe von etwa fünf Prozent.

Hinzu kommt: Die Pressefreiheit scheint bedrohter denn je. So zeigt sich die Organisation »Reporter ohne Grenzen« besorgt, dass die Corona-Pandemie weltweit zu einer Verschlechterung der Pressefreiheit führt. Auch Fake News und Desinformation haben in der Krise massiv zugenommen. Nach wie vor ist auch Hate-Speech gegen Medienschaffende ein zunehmendes Problem – der gesteigerten Hinwendung zu seriösen Quellen zum Trotz.

Von Tanja Köhler bei transcript herausgegeben:

Fake News, Framing, Fact-Checking: Nachrichten im digitalen Zeitalter

Ein Handbuch

»Wer sich in dem oft verwirrenden Angebot von medialen Nachrichtenkanälen einen orientierenden Überblick verschaffen will, wer neue Begrifflichkeiten verstehen und die verschlungenen Wege von Information oder Desinformation erkennen will, wer Verlässlichkeit von Nachrichten und Vertrauen in Journalisten unverändert für die Basis der öffentlichen Meinungsbildung hält, kommt an diesem Handbuch kaum vorbei.«

Gunther Hartwig, Südwestpresse, 08.09.2020


Corona beschleunigt die digitale Transformation

Es besteht wohl kein Zweifel, dass der Journalismus durch Corona einen Digitalisierungsschub erlebt. Doch das alles ist nicht neu. Corona beschleunigt vielmehr, woran die meisten Medienhäuser schon seit Jahren arbeiten: die digitale Transformation. Wie unter einem Brennglas macht die Pandemie die Chancen und Herausforderungen dieser Transformation deutlich. Denn die Digitalisierung verändert seit Jahrzehnten das Mediensystem ebenso massiv wie den Journalismus selbst: Sie erschüttert traditionelle Geschäftsmodelle, verändert die Nachrichtenproduktion und -distribution sowie Organisationsstrukturen und Arbeitsroutinen.


Erkenntnisse und Entwicklungen über Corona hinaus bewahren

Den Handlungsbedarf und die Handlungsmöglichkeiten gab es also schon vor Corona. In der Krise werden sie nun besonders deutlich. Vor Corona wurden beispielsweise Transparenzstrategien und der Nutzerdialog oft zu wenig beachtet. Mit Corona ist der Bedarf nach Erklärung und Einordnung gestiegen, auch der Bedarf nach Erklärung, was guten (Informations-)Journalismus auszeichnet.

Auch den Ruf nach mehr Beobachtungstiefe und einer Weitung der Perspektive im Journalismus gab es schon vor der Krise – die Pandemie macht die Notwendigkeit nun deutlicher: So haben die Corona-Maßnahmen vielfältige Auswirkungen auf unseren Alltag und unser gesellschaftliches Miteinander, wobei nicht jeder Mensch gleichermaßen stark von der Krise betroffen ist. Es gibt durchaus berechtigte Kritik an diesen Maßnahmen und ernstzunehmende Ängste, die viele Menschen umtreibt. Auch in der Corona-Krise ist es deshalb wichtig, die Auswahl der Inhalte immer wieder zu hinterfragen: Wie wirken sich die Corona-Maßnahmen auf ärmere Bevölkerungsgruppen aus, auf Menschen mit anderem sozialen Hintergrund und anderem Bildungsgrad? Auf Menschen, die nicht im Home Office arbeiten können (immerhin die Mehrheit in diesem Land). Wie ergeht es Freiberuflern, Menschen mit Migrationshintergrund, Alleinerziehenden?

Seit Beginn der Corona-Krise hat die Berichterstattung über Forschungsergebnisse zudem massiv zugenommen. Dabei gehört es zum Wesen der Wissenschaft, dass die meisten Erkenntnisse nur vorläufigen Charakter haben und mit Unsicherheiten behaftet sind. Journalistinnen und Journalisten müssen deshalb noch mehr oder besser wissenschaftliche Erkenntniswege erklären, immer wieder auf die Halbwertzeit von Studienergebnissen hinweisen und Widersprüche benennen. Die öffentlich-rechtlichen Sender haben aus der Krise bereits die Erkenntnis gezogen, Qualität und Quantität des Wissenschaftsjournalismus auszubauen und enger mit tagesaktuellen Informationsangeboten zu verzahnen.

Die Auswirkungen der Corona-Krise auf den Journalismus sind ambivalent und paradox. Es bleibt dennoch zu hoffen, dass die aus der Krise abgeleiteten Erkenntnisse und Entwicklungen auch nach der Pandemie weiter Bestand haben werden. Denn so hätte man die Chance zur Systemverbesserung genutzt, die die Krise eben auch in sich birgt.