Gabriele Klein

Gabriele Klein

ist Professorin für Bewegungs- und Tanzwissenschaft sowie Performance Studies an der Universität Hamburg.

Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kultur- und Sozialtheorie und Sozialgeschichte von Körper, Bewegung und Sport, Tanz- und Performance-Theorie, zeitgenössische Tanz- und Performancekunst, urbane Bewegungskulturen und populäre Tanzkulturen.

Katharina Liebsch

Katharina Liebsch

ist Professorin für Soziologie unter besonderer Berücksichtigung der Mikrosoziologie an der Helmut Schmidt Universität Hamburg.

Sie forscht im Bereich der Geschlechterforschung, der hermeneutischen Wissenssoziologie und Normenanalyse, der Körper- und Biopolitik, der Kulturen des Privaten und der Intimität.

Cover Die Corona-Gesellschaft

Dieser Text ist die Kurzfassung eines Beitrags aus der Buchpublikation »Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft«, herausgegeben von Michael Volkmer und Karin Werner, die im Juli 2020 erschienen ist.

Weitere Blog-Beiträge zum Buch


In der Corona-Krise werden Körper zu Angriffsflächen und Transmittern von Ansteckung und zugleich zum Gegenstand von Bekämpfungspolitiken: Da alle Körper Träger, Akteure und Objekte von Infektion sein können, werden sie durch gesellschaftspolitische Verordnungen in ihrer konkreten Bedeutung als Kommunikationsmedium isoliert, marginalisiert und abstrakt dämonisiert. Die Politik des »Social Distancing« richtet sich gegen die Körper, ob es um Kontaktsperre, »Sicherheitsabstand«, Mundschutz, Homeoffice oder digitales Lernen und Studieren geht.

Wenn nun »das Soziale« in den Praktiken körperlicher Distanzierung stattfindet und Öffentlichkeit vor allem über digitale Medien hergestellt wird, dann werden auch die Verhältnisse zum eigenen Körper und zu dem Körper der Anderen neu klassifiziert – und dies vermutlich nicht nur während der akuten Krisenbekämpfung, sondern auch nachhaltiger. Und hier sind zwei Körper adressiert: Einerseits sollen Individualkörper geschützt werden. Andererseits ist die hochindividualisierte Gesellschaft dazu aufgefordert, einen »Gemeinschaftskörper« zu bilden, dessen Leistung in einem kollektiven Rückzug besteht. Schon deshalb passt die Metapher des Krieges nicht, sondern eher die des Ausnahmezustands. Aber anders als Giorgio Agamben, der diese Pandemie als totalitär versteht und die These vertritt, dass »wir alle nur noch nacktes Leben« seien, stellen sich aus körpersoziologischer Perspektive Fragen nach dem Ablauf und dem Vollzug des »Social Distancing«: Welche Neu-Klassifizierungen der Körper entstehen durch die Ge- und Verbote körperlicher Begegnung? Wie werden sie legitimiert? Wie integrieren Individuen sie in ihren Alltag? Drei Aspekten kommt eine strukturierende und organisierende Rolle für die »Körper im Ausnahmezustand« zu.

1. Biopolitische und biosoziale Neuverortungen

»Biosozialität« nennt der Anthropologe Paul Rabinow die Gestaltung und Ausrichtung von Kultur auf der Basis von Natur. Biosozial ist demnach der Vorgang, der ausgehend von epidemiologischen und virologischen Untersuchungen und Berechnungen menschliche Körper zu »Herden«, »Kohorten« und »Populationen« macht, »Risikogruppen« ausweist und soziale Einteilungen gefährlicher und gefährdeter Körper entlang von Forschungen, Testungen und Antikörper-Nachweisen vornimmt. »Immunisierung« ist hierbei aber nicht nur ein Fachbegriff des medizinischen Denkens. Mit Sozialtheoretikern wie Niklas Luhmann und Roberto Esposito kann man von gesellschaftlicher Immunisierung sprechen, wenn nationale Pandemiepläne, neue Strategien der »Daseinsfürsorge« und Finanzspritzen zur Aufrechterhaltung der Wirtschaft eingeführt werden. Diese Maßnahmen haben zudem Auswirkungen auf die Mikrophysik der Körper, indem sie das Verhältnis von Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, Präsenz/Absenz und Privatheit/Öffentlichkeit von Körpern neu regulieren. Dabei geraten auch herkömmliche Bedeutungen von Körperklassifikationen in Bewegung (männlicher/weiblicher Körper, Handarbeit/Kopfarbeit, Land- und Stadtbevölkerung), andere verschieben ihren Bedeutungshorizont (aus Vorerkrankten werden »Gefährdete«, aus Kindern »Gefährder«) und bestehende Marginalisierungen von immer schon als gefährlich angesehenen Körpern transformieren sich (Obdachlose und Flüchtlinge werden vergessen oder vollständig ein- bzw. ausgeschlossen). Schließlich entstehen im Zuge dieser gesellschaftlichen Immunisierung neue Klassifikationen von Körper; der Begriff der »Systemrelevanz« wird hierbei zur neuen Ordnungskategorie. Die biopolitischen und biosozialen Neuverortungen richten auf diese Weise das Verhältnis von Staatskörper, Gesellschaftskörper, Nationalkörper und Individualkörper neu aus.

2. Neue Routinen im Öffentlichen und Privaten

Diese Neu-Klassifikationen werden in alltäglichen Interaktionen physischer und virtueller Kommunikation wahrgenommen, erlebt, akzeptiert, ignoriert, irritiert und validiert. Abstandsregelungen und Ausgangssperren sind zu neuen Körper-Routinen geworden, obwohl mit ihnen veränderte, paradoxe Nähe- und Distanzverhältnisse verbunden sind. »Social Distancing« – im Kern ein »Physical Distancing« – ist für die meisten Menschen zur normalisierten Körperpraktik geworden. In den Praktiken des körperlichen Distanzierens, Verhüllens und Verschwindens werden Körpersprache und kulturelle Körpercodes und -techniken, über die Kommunikation normalerweise hergestellt, versichert und beglaubigt wird, neu ausgerichtet.

Damit die Körper in der Öffentlichkeit auf Distanz bleiben können, intensiviert sich deren Nähe im Privaten. Dies realisiert sich sehr unterschiedlich, denn die konkreten Körperlichkeiten im Privaten sind sozial situiert und klassenspezifisch different. Je nach Beschaffenheit des privaten Raumes ist körperliche Nähe dort produktiv, einschränkend, belastend oder bedrängend. Die Situiertheit des Privaten bestimmt auch mit darüber, wie körperliche Nähe gelebt werden kann. Wenn diese neue Nähe in Gewalt umschlägt, ist sie jetzt noch weniger sichtbar, als sie es vor der Krise schon war. Widersprechen muss man deshalb jenen, die behaupten, dass wir angesichts des Virus alle gleich seien und das Virus auf Klassendifferenzen keine Rücksicht nehme. Auch der infizierte Körper ist sozial determiniert. Wie er durchkommt, darüber entscheiden ganz wesentlich kulturelle, ökonomische und soziale Ressourcen und die Zugänge zu ihnen.

3. Die Erzeugung neuen kulturellen Körper-Wissens

Die alltägliche Etablierung der geforderten Körperzustände und Handlungszusammenhänge ist darauf angewiesen, dass die Sinnhaftigkeit der neuen Praktiken bezeugt und beglaubigt wird. Ein zentraler evidenzerzeugender Diskurs wird hierbei durch die epidemiologische und virologische Forschung generiert. Auf ihren Erkenntnissen beruhen die Neu-Klassifizierungen der Körper und die mit ihnen verbundenen Wahrnehmungen, Irritationen und Ängste. Doch diese Beglaubigung braucht auch kulturelles Wissen, damit sie von den Individuen als real und angemessen angesehen werden kann. Insofern gehören zum Ausnahmezustand auch die Alltagsethnografie, seine Dokumentation, Reflexion und Deutung. Entsprechend etablieren sich gerade diskursive Formate und virtuelle Instrumente, die Erfahrungen sammeln, Narrationen initiieren, Notstände sichtbar machen und Trost spenden: Surveys über das Alltags- und Familienleben erzeugen Daten zum Erleben des Körpers im Ausnahmezustand. Corona-Tagebücher, -Protokolle und -Essays oder Journals »politisch-persönlicher Notizen« geben subjektiven Einschätzungen Raum, deren öffentliche Präsentation und präsenzbasierte intersubjektive Diskussion derzeit ausgesetzt ist. Neue Rituale, z.B. Singen und Applaudieren am Fenster, ergänzen die millionenfachen Tweets, Kurznachrichten und Telefonate, die als Alltagskommunikation sowieso ablaufen.

Die Aktivität und Vielfalt der kulturellen Produktion von Wissen über die Körper in Zeiten des Ausnahmezustands lassen erahnen, wie dringend dieser als unwirklich wahrgenommene Zustand der numerischen Evidenz und der authentifizierenden Narrative bedarf, um als ›real‹ performativ beglaubigt zu werden.