Im Jahr 1972 erschien der Bericht an den Club of Rome »Die Grenzen des Wachstums«, den das Exekutivkomitee des Club of Rome wie folgt kommentierte: »Wir sind überzeugt, dass eine klare Vorstellung über die quantitativen Grenzen unseres Lebensraums und die tragischen Konsequenzen eines Überschießens seiner Belastbarkeit dafür wesentlich ist, neue Denkgewohnheiten zu entwickeln, die zu einer grundsätzlichen Änderung menschlichen Verhaltens und damit auch der Gesamtstruktur der gegenwärtigen Gesellschaft führen.« (Meadows et al. 1972) Diese Einschätzung und implizite Warnung hat nichts an Aktualität verloren – im Gegenteil. Der Klimawandel wird in seinen ökologischen und sozialen Auswirkungen immer konkreter und rückt in fassbare Nähe, die Endlichkeit fossiler Ressourcen ist keine abstrakte Größe mehr, das Artensterben schreitet voran, ökologisch motivierte Bewegungen und Parteien sind in einer Vielzahl von Ländern über die letzten Jahrzehnte gegründet worden, und die Menschheit scheint allmählich zu begreifen, dass großer Handlungsbedarf besteht.

Das Buch

Les Convivialistes

Das konvivialistische Manifest

Miteinander zu leben ist eine Kunst und eine Philosophie. Les Convivialistes stellen Alternativen zum Status Quo vor, die ein Zusammenleben jenseits der Wachstumsgesellschaft ermöglichen, das Sozialität, Konflikt und Individualität produktiv aufeinander bezieht.

Doch zu wenig geschieht bisher auf globaler Ebene. Die dringend gebotene globale Kooperation der Staatengemeinschaft, die es bräuchte, um dem Klimawandel entschlossen gegenüberzutreten, stagniert seit Jahren. Hinzu kommen weitere massive Bedrohungen eines friedlichen und gerechten menschlichen Zusammenlebens: Große Teile Afrikas werden von Kriegen, korrupten Regierungen, Hunger und Vertreibung zerrüttet; die sozialen Ungleichheiten wachsen in vielen Ländern dramatisch, und die Wirtschafts-, Staatsverschuldungs- und Finanzkrise ist längst nicht überwunden. Das Projekt Demokratie ist vielerorts auf entkernte formale Prozeduren reduziert, und wir sind auch weiterhin Zeug*innen von Terrorismus, Bürger- und ethnischen Kriegen.

In dieser Situation hat eine Gruppe von hauptsächlich französischen Wissenschaftler*innen und Intellektuellen ein Manifest herausgegeben, das von Umkehr und einer positiven Vision des Zusammenlebens spricht: das konvivialistische Manifest. Nur eine weitere wohlfeile Kritik der Gesellschaft und ein gut gemeinter Appell zum Wandel? Was bewirkt schon der Aufruf einiger Philosoph*innen und Sozialwissenschaftler*innen, wird man fragen wollen und müssen.

Die Besonderheit des vorliegenden Manifests besteht darin, dass sich eine große Gruppe von Wissenschaftler*innen ganz unterschiedlicher politischer Überzeugungen auf einen Text einigen konnte, der in groben Zügen benennt, welche Fehlentwicklungen zeitgenössische Gesellschaften durchlaufen. Hier identifiziert das Manifest zwei Hauptursachen: den Primat des utilitaristischen, also eigennutzorientierten Denkens und Handelns und die Verabsolutierung des Glaubens an die selig machende Wirkung wirtschaftlichen Wachstums. Zum anderen wird diesen Entwicklungen eine positive Vision des guten Lebens entgegengestellt: Es gehe zuallererst darum, auf die Qualität sozialer Beziehungen und der Beziehung zur Natur zu achten. Dazu wird der Begriff des Konvivialismus (con-vivere, lat.: zusammenleben) herangezogen. Der Begriff soll anzeigen, dass es darauf ankomme, eine neue Philosophie und praktische Formen des friedlichen Miteinanders zu entwickeln. Das Manifest will deutlich machen, dass eine andere Welt möglich – denn es gibt schon viele Formen konvivialen Zusammenlebens –, aber auch angesichts oben genannter Krisenszenarien absolut notwendig ist.

[…]

Auf theoretischer Ebene strebt der Konvivialismus eine Synthese verschiedener einflussreicher politischer Ideologien an: eine Synthese von Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus. Praktisch wird der Konvivialismus schon in einer Vielzahl von sozialen Konstellationen gelebt: sowieso im familiären und freundschaftlichen Rahmen, in dem nach wie vor die Logik der Gabe und nicht die des utilitaristischen Kalküls zählt. Dann in hunderttausenden von assoziativen Projekten der Zivilgesellschaft weltweit, im freiwilligen Engagement, im Dritten Sektor, in der solidarischen Ökonomie, in Kooperativen und Genossenschaften, im moralischen Konsum, in NGOs, in peer to peer-Netzwerken, Wikipedia, sozialen Bewegungen, Fair Trade, der Commons-Bewegung und vielem mehr. Menschen interessieren sich nicht nur für sich selbst, sie sind auch an anderen interessiert, sie können sich spontan und empathisch für andere einsetzen. Und die Organisationsweise dieses Typs von Handeln par excellence ist die freie zivilgesellschaftliche Assoziation, in dem vor allem das Prinzip der Unentgeltlichkeit, des reziproken Gebens und Nehmens zum Tragen kommt (vgl. Adloff 2005). […] Man darf nicht (wie der Sozialismus) allein auf staatliche Institutionen setzen; politische Veränderungen laufen nicht nur über Parteien und Staaten. Auch der Liberalismus mit seiner Betonung von Märkten übersieht die Möglichkeiten gesellschaftlicher Selbstorganisation. Die assoziative, zivilgesellschaftliche Selbstorganisation von Menschen ist hingegen entscheidend für die Theorie und Praxis der Konvivialität. Der unentgeltliche freie Austausch unter den Menschen kann als Basis einer konvivialen sozialen Ordnung gelten, die sich abgrenzt von einer allein materiell und quantitativ-monetär definierten Version von Wohlstand und des guten Lebens.

Der Zugang zu gesellschaftlichen Veränderungen ist damit grundsätzlich pluralistisch gedacht. Es wird nicht eine einzelne soziale Trägergruppe identifiziert (eine Klasse oder eine soziale Bewegung), die die Veränderung bringen soll. Viele Wege sind zu eröffnen und zu gehen, Wege, denen gemeinsam ist, dass sie der Ökonomisierung des Lebens etwas entgegenstellen. […] Ein relativistischer Universalismus ist mithin gefordert – ein ›Pluriversalismus‹ (Caillé 2011b: 93). […]

Das Manifest kann also insgesamt als Aufforderung verstanden werden, sich an der Suche nach »realen Utopien« (vgl. Wright 2012) zu beteiligen, die reformistisch und zugleich radikal dazu beitragen können, Utilitarismus und maßloses Wachstum zu überwinden. Auf den letzten Seiten des Manifests wird ein konvivialistischer New Deal gefordert. Ein solcher kann und darf jedoch nicht primär ein sozialplanerisches und expertokratisches Projekt sein. Alle sind aufgerufen, sich kreativ zu beteiligen, ihre Empörung einzubringen und diejenigen zu beschämen, die die Möglichkeit eines konvivialen Zusammenlebens aufs Spiel setzen. Zugegeben: Das klingt sehr naiv, doch darin liegt – so hat es die italienische Philosophin Elena Pulcini pointiert – die besondere Radikalität und Stärke des konvivialistischen Projekts.

Literatur

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Mauss, Marcel (1978 [1924]): Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. In: Ders.: Soziologie und Anthropologie, Band 1. München: Ullstein.

Meadows, Donella H. et al. (1972): Die Grenzen des Wachstums. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt.

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