Finn Dammann / Boris Michel (Hg.)

Handbuch Kritisches Kartieren

Karten erzählen Geschichten und formen unser räumliches Verständnis von Welt. Sowohl das Lesen als auch das Erstellen von Karten bedeutet, die Welt auf eine bestimmte Weise zu erzeugen, zu beschreiben und wahrzunehmen. Dahingehend hinterfragen kritische Kartograph*innen die Macht der Karte und eignen sich die Praxis der Kartographie an.


»Mapa de lo que ahora se conce como Las Islas Filipinas« –
eine Skizze kritischen Kartierens

1734 wurde in Manila eine Karte der Philippinen veröffentlicht, die sich von allen vorherigen Darstellungen jener gut 7000 Inseln erheblich unterschied. Die nach dem spanischen König Philipp II. benannten Philippinen waren knapp 200 Jahre zuvor spanischer Kolonialherrschaft unterworfen worden und dienten Spanien bis zu diesem Zeitpunkt in erster Linie als Stützpunkt für den Handel mit China. Anders als in den spanischen Kolonien in Lateinamerika erlangte Spanien über diese Inseln nur in begrenztem Maße territoriale Kontrolle. Bis ins 18. Jahrhundert hinein beschränkte sich die spanische Macht in erster Linie auf die Region um die Hauptstadt Manila sowie auf die Macht der katholischen Kirche.

Carta Hydrographica y Chorographica de las Islas Filipina


Die durch den spanischen Jesuiten Pedro Murillo Velarde im königlichen Auftrag
zusammengestellte und durch den indigenen Drucker Nicolás de la Cruz Bagay produzierte »Carta Hydrographica y Chorographica de las Islas Filipinas« stellte die bis dato genaueste Karte der Philippinen dar – und gilt vielfach als erste wissenschaftliche Karte des Landes überhaupt.

Es ist die erste Karte, die den »geo-body« (Thongchai Winichakul 1994) der Philippinen
in jener territorialen Form zeigt, die den Referenzrahmen für spätere Kolonialpolitik, antikoloniale Befreiungsbewegungen und nachkoloniales nation building vorgibt. Alle heute noch bekannten älteren Karten, seien es vorkoloniale Karten aus China, Korea oder Europa (Quirino 1959), zeigen die Inseln als Teil größerer Regionen und nicht als eine geschlossene Einheit. Gerade auf spanischen Karten werden die Philippinen dabei meist als westlicher Vorposten des Kolonialreichs dargestellt und damit als ein vorgelagerter Teil Lateinamerikas. Diese Nähe zwischen Amerika und Asien und die damit einhergehende Darstellung des Pazifiks als ein Raum spanischer Macht, so der Historiker Ricardo Padrón, waren ein wichtiger Teil der kartographischen Ideologie des spanischen Kolonialismus und seiner Legitimierung.

In den 2010er Jahren erlangte die Karte erneut Prominenz, nicht nur dadurch, dass eines der wenigen verbleibenden Exemplare nun erstmals der Öffentlichkeit auf den Philippinen zugänglich war, sondern auch, weil sie in einem neuen geopolitischen Konflikt mobilisiert wurde, um geographische Aussagen und territoriale Ansprüche zu formulieren.

Die Karte verzeichnet – wenngleich etwas ungenau – am westlichen Rand eine Reihe von Inseln, wie die Spratly-Inseln und das Scarborough-Riff, die heute Gegenstand internationaler Rechtsstreitigkeiten zwischen mehreren Anrainerstaaten sind. Dabei nutzte die philippinische Regierung Velardes Karte aus dem 18. Jahrhundert, um sie als historischen Eigentumstitel zu mobilisieren.

Die Konstruktion der Philippinen auf dieser Karte beschränkt sich nicht auf die Darstellung von Küstenlinien und Zugehörigkeiten. Am Kartenrand erzählen Zeichnungen eine Geschichte der Philippinen als Land unterschiedlicher Völker, die stets eng und harmonisch mit der katholischen Kirche und der spanischen Krone verbunden sind. Die spanische Macht und Legitimität werden dabei durch Insignien und die Sprache der Wissenschaften ebenso belegt wie durch Darstellungen der gebauten Umwelt, also spanischer Architektur und Baukunst, beispielsweise in Form eines Plans des kolonialen Zentrums in Manila. Die Karte enthält zudem eine kurze Darstellung der Geschichte des Landes als Geschichte der spanischen Herrschaft, beginnend im Jahr 1519 mit dem Aufbruch von Ferdinand Magellan und endend 1571 mit der Gründung Manilas als Kolonialstadt.

Ein weiteres Element der Karte sind einige wirtschafts- und bevölkerungsgeographische Grundangaben der Kolonie und ihrer Reichtümer. Die auffällig gestalteten Schiffe und Schifffahrtsrouten sind nicht nur dekorativer Kartenschmuck, sondern verweisen auf die Rolle der Philippinen bzw. Manilas als Zentrum des transpazifischen Galeonenhandels, der Ostasien für die spanische Kolonialmacht mit dem mexikanischen Acapulco verband. Wie bei vielen Karten dieser Zeit, so wurde auch hier weit mehr verhandelt als die geographische Lokalisierung von Städten, Bergen und Küsten. Die Karte ist eine visuelle Manifestation kolonialer Herrschaftsansprüche. Velardes Karte, so Mirela Altić, unterstreicht und zelebriert auf der Ebene der Symbole, Texte und Bilder die Geschichte der Philippinen als eine spanische Geschichte und den Reichtum des Landes als einen, der durch die Leistungen des spanischen Kolonialismus geschaffen wurde.

In diesem Sinne kann Velardes Karte als ein Beispiel für die vielfach betonte und mehrdimensionale Verbindung zwischen Kartographie, Nation und Kolonialismus gelten. Sie verweist auf die materielle und symbolische Rolle, die Karten bei der Kontrolle und Legitimierung kolonialer Herrschaft spielten, auf die Öffnung und Schließung von kolonisierten Territorien und auf das, was James Scott als »Lesbarmachung« (Scott 1998) bezeichnet – die Erzeugung eines »wissbaren«, kalkulierbaren und damit aus der Ferne regierbaren Territoriums.