
Knut Bergmann (Dr. phil), geb. 1972, leitet die Kommunikationsabteilung und das Berliner Büro des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Zudem lehrt er Politikwissenschaften an der Universität Bonn und ist Fellow der NRW School of Governance. Publiziert hat er vor allem zu den Themen politische Kommunikation, Wahlforschung und Staatsrepräsentation.
Obwohl nicht nur sondiert, sondern im grün-gelben Zitrus-Format sogar vor-sondiert wurde, war 73 Tage nach der Bundestagswahl vom 26. September 2021 das erste echte Dreierbündnis samt Koalitionsvertrag unter Dach und Fach – die Vorgänger-GroKo hatte, Rekord, 99 Tage länger benötigt. Dann folgte nach nicht einmal 100 Tagen, die sonst jeder Regierung bleiben, die von Olaf Scholz ob des drei Tage zuvor begonnenen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine in seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 benannte »Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents«. Und diese Zeitenwende gilt nicht nur hinsichtlich der Geschichte Europas, sondern genauso mit Blick auf die deutsche Sicherheitspolitik. Dass die Bundesrepublik den Großteil der friedenspolitischen Dividende seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Aufziehen des Eisernen Vorhangs gewissermaßen »verfrühstückt« hat, ist schon vor dem Angriff von Putins Truppen vielfach kommentiert worden.
Knut Bergmann (Hg.)
»Mehr Fortschritt wagen«? ↗
Parteien, Personen, Milieus und Modernisierung: Regieren in Zeiten der Ampelkoalition
»Selbst wer angesichts der jetzt schon über 70 Jahre währenden Bundesrepublik bezweifelt, dass noch keine Regierung je vor größeren Aufgaben gestanden hat – gewiss ist, dass keine Koalition sich jemals mehr vorgenommen hat. Und das in einem auf Bundesebene noch nicht eingeübten Bündnis. Dazu kommt, dass alle Parteien mit tiefgreifenden Reformnotwendigkeiten konfrontiert sind.«
Herausgeber Knut Bergmann über das Buch
Allein die Verweigerung der SPD, ein knappes Jahr vor der Bundestagswahl Drohnen für die Bundeswehr anzuschaffen mit dem Argument, das Thema sei noch nicht hinreichend gesellschaftlich diskutiert, sollte ausreichen, um zu verstehen, aus welchen sicherheitspolitischen Träumen viele geweckt wurden. Jetzt scheint es möglich, dass die Bundeswehr mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ertüchtigt wird. Beschafft werden sollen unter anderem F-35-Kampfflugzeuge, nachdem im Frühjahr 2020 noch eine per E-Mail abgegebene Absichtserklärung der Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer gegenüber ihrem amerikanischen Amtskollegen Mark Esper F-18-Jets zur Aufrechterhaltung der nuklearen Teilhabe beschaffen zu wollen, für erheblichen Krach in der Großen Koalition gesorgt hatte. Dass nunmehr die nukleare Teilhabe, die vorher in der SPD-Fraktion als Teufelszeug galt, als nachgerade alternativlos angesehen wird, ist ein Indiz für die Stimmigkeit des Begriffs »Zeitenwende«. Ähnliches gilt hinsichtlich der Finanzierung. Die Konstruktion eines sauber vom sonstigen Haushalt abgrenzbaren Sondervermögens soll für die Bundeswehr jetzt praktikabel sein, nachdem es drei Jahre lang nicht möglich war, auf ähnliche Weise einen Fonds für überfällige Investitionen in Sachen Digitalisierung, Verkehrsinfrastruktur, Klimawandel und Demografie zu schaffen – oder die Schuldenbremse entsprechend zu reformieren. Die Frage nach der Finanzierung der Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag, der Ertüchtigung der Bundeswehr sowie die Abfederung der Kriegslasten und der Wiederaufbau in der Ukraine dürfte die größte materielle Herausforderung für diese Koalition werden.
Der Koalitionsvertrag der Ampel wäre auch ohne die Neusortierung der Sicherheitspolitik mit all ihren Folgewirkungen auf andere Politikfelder – insbesondere auf die Wirtschafts- und Energiepolitik mit all ihren Abstrahleffekten – ambitioniert genug gewesen. Das lässt sich nicht nur durch die Lektüre der 178 Seiten unter dem Titel »Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit« erschließen, sondern auch ableiten aus Berichten aus den Koalitionsverhandlungen, in denen manches Tafelsilber nicht frei von polit-taktischem Eigennutz den zukünftigen Partnern überreicht wurde.
Keineswegs sind die Vorhaben im Bereich der Energie- und Klimapolitik durch die Zeitenwende Makulatur geworden. Im Gegenteil gelte für die Energie- und Klimapolitik ein »Jetzt erst recht«, so Bundeskanzler Scholz in der Haushaltsdebatte im März 2022: Das Ziel, ein klimaneutrales Deutschland bis 2045 zu schaffen, sei wichtiger denn je. Denn es gebe nur eine nachhaltige Antwort auf Energieabhängigkeit und hohe Energiepreise: Erneuerbare Energien und Energieeffizienz.
Zudem traut die Bevölkerung der Regierung auf diesem Politikfeld »am meisten Elan« zu, wie das IfD Allensbach Ende März ermittelte. Allerdings befürchtet die Hälfte der Menschen Nachteile für sich, in Ostdeutschland sogar eine deutliche Mehrheit. Die Herausforderungen bleiben also – unter verschärften sicherheits-, außen- und finanzpolitischen Bedingungen. Hinzu kommt, dass die Bevölkerung der Koalition zwar den Willen zuschreibt, das Land zu modernisieren, dass aber erhebliche Zweifel bestehen, ob das gelingen kann. Was auch immer in der 20. Legislaturperiode noch geschehen mag: Sicher ist, dass für die Protagonisten des Regierungsbündnisses, für das der Begriff der Kamerun-Koalition (grün-rot-gelb: Sozialdemokraten mittig zwischen einem gelben Block zu ihrer Rechten und einem grünen Block zu ihrer Linken) treffender wäre als der der Ampel, ein Sprichwort aus – woher sonst? – Kamerun gelten wird: »Eine Hand allein schnürt kein Bündel.«