Katharina Manderscheid

ist Professorin für Soziologie an der Universität Hamburg im Fachbereich Sozialökonomie.

Sie arbeitet unter anderem zu Transformation und Zukunft von Verkehr und Mobilität sowie zu sozialer Ungleichheit, Nachhaltigkeit und Lebensführung.

Cover Die Corona-Gesellschaft

Dieser Text ist die Kurzfassung eines Beitrags aus der Buchpublikation »Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft«, herausgegeben von Michael Volkmer und Karin Werner, die im Juli 2020 erschienen ist.

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Am Anfang dessen, was jetzt als Corona-Krise bezeichnet wird, stand Mobilität: Die Mutation des Virus, die es von Mensch zu Mensch übertragbar und damit entlang menschlicher Interaktionsketten mobil machte, erscheint wie der Flügelschlag des Schmetterlings in der Chaostheorie, der den Tornado am anderen Ende der Welt auslöst. Aus dem Blickwinkel der soziologischen Mobilitätsforschung möchte ich im Folgenden einige Veränderungen des Erwerbsalltags betrachten und soziale Ungleichheiten herausarbeiten. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Prämisse, dass das Soziale durch Mobilitäten konstituiert wird. Mobilität beinhaltet in dieser Perspektive nicht nur das Überwinden geographischer Distanz, sondern auch die Potenzialität von Bewegung sowie das machtstrukturierte, sich gegenseitig bedingende Verhältnis von Mobilitäten und Immobilitäten, erzwungener und autonomer Ortsveränderungen und Sesshaftigkeiten (Cass/Manderscheid 2019; Hannam et al. 2006).

Erwerbsarbeit und Mobilität – neue und alte Ungleichheiten

Mit dem Lock-Down wurde spürbar, wie sehr der mobile Alltag der Erwerbstätigen eine gesellschaftliche Arbeitsteilung und immobile ortsgebundene Tätigkeiten voraussetzt. Im Bereich der Erwerbsarbeiten werden Bruchlinien der Ungleichheit sichtbar zwischen denjenigen, deren Tätigkeiten durch eine Verlagerung auf virtuelle Mobilität weiterführbar ist, denjenigen, deren systemrelevanten Tätigkeiten weiterhin physische Mobilität zu ihren Arbeitsorten erfordert und denjenigen, deren Tätigkeiten ausgesetzt wurden, die kurzarbeiten oder arbeitslos werden.

Diejenigen, deren immateriellen Tätigkeiten sich gut ins Homeoffice verlagern lassen, arbeiten jetzt fast unverändert oder, wenn sie zusätzlich Kinder betreuen und beschulen müssen, unter räumlich und zeitlich beengten Bedingungen weiter. Der Anteil der Erwerbstätigen, die im Homeoffice arbeiten, beträgt derzeit ca. 26 %. Diese Gruppe ist durch hohe Bildungsabschlüsse und hohe Einkommen gekennzeichnet (Möhring et al. 2020). Tendenziell findet hier eine Verdichtung der Tätigkeiten statt. Je nach Tätigkeit werden physische Besprechungen mit Kolleg*innen jetzt durch Video-Meetings, also Treffen im virtuellen Raum, ersetzt, was zwar funktional äquivalent, jedoch vergleichsweise konzentrations-intensiver ist. Wege zwischen Meetings, die immer auch eine Pause bedeuten, fallen weg. Diese Tätigkeitsverdichtung und Beschleunigung wird post-Corona in Teilen sicher beibehalten werden.

Eine zweite Gruppe von Erwerbstätigen geht ebenfalls nach wie vor den Berufstätigkeiten nach, jedoch an außerhalb der Wohnung liegenden Arbeitsorten. Der Anteil dieser Gruppe an den Erwerbstätigen beträgt ca. 54 % (ebd.). In den Blick der Öffentlichkeit sind hier insbesondere die systemrelevanten Tätigkeiten gerückt, also alles, was das physische Überleben sicherstellt. Dazu gehören die Kassierer*innen in Lebensmittelläden, Pflegekräfte und Ärzt*innen, diejenigen, die die Ver- und Entsorgungsstrukturen – z.B. Energie und Wasser, Müll-, Tierkadaverentsorgung und Bestattungsdienste, das Verkehrssystem sowie die Warenlogistik –  aufrechterhalten. Weniger wahrgenommen werden diejenigen, deren Tätigkeiten für die schrittweise Lockerung der Maßnahmen wichtig werden: Reinigungskräfte und Hausmeister-, Wach- und Pförtnerdienste. Alle diese Tätigkeiten erfordern das Verlassen der Wohnung sowie potenziell gefährliche Mobilitäten zu Fuß, mit dem Rad und mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Auch in den Betrieben besteht ein höheres Infektionsrisiko durch Kolleg*innen und Kontakt mit Kund*innen oder Patient*innen. Nicht nur in Schweden wird beobachtet, dass sich das Virus überproportional bei der migrantischen Bevölkerung ausgebreitet hat, die häufig mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit in prekären Beschäftigungsverhältnissen pendeln und in überbelegten Wohnungen leben (Wolff 2020). Der Rückzug ins sichere Homeoffice und den virtuellen Raum hat, das wird hier sichtbar,  materielle, ortsgebundene und körperliche Voraussetzungen und führt in der gegenwärtigen Situation zu ungleich verteilten Risiken der Infektion.

Eine dritte Gruppe der Erwerbstätigen wurde durch den Lock-Down und die vermutlich nachhaltigen Einbrüche der Wirtschaftsaktivitäten zu einer Reduktion oder Verlust ihres Einkommens und ihrer Tätigkeiten verdammt. Der Anteil dieser Gruppe liegt bei ca. 20 % und betrifft überdurchschnittlich Personen mit geringen Einkommen und geringer Bildung (Möhring et al. 2020). Vermutlich steigt dieser Anteil noch. Viele Selbständige und kleine Unternehmen werden die erzwungene Immobilität und Inaktivität ökonomisch nicht langfristig aufrechterhalten können. Diejenigen, die im und nach dem Lock-Down nicht mehr arbeiten können, sind dabei potenziell einer unstrukturierten Zeit und der Erfahrung von Langeweile ausgesetzt – zumal viele Freizeit- und Zerstreuungsangebote geschlossen sind.

Exit-Optionen und No-Exit-Fate

Doch auch jenseits der Erwerbssphäre ist die Pandemie ungleichheitsstrukturiert und strukturierend entlang der Mobilitätsachsen: Berichte aus Ländern des globalen Südens, aus Südamerika oder Afrika verdeutlichen, dass das Virus dort primär von den ökonomischen Eliten beispielsweise aus ihrem Skiurlaub in Österreich oder Italien mitgebracht wurde. Die Eliten können sich jetzt in abgeschirmte Wohngebiete zurückziehen und dort das Infektionsrisiko individuell minimieren. Auch in Europa hat die Flucht der Wohlhabenden in ihre Zweitwohnungen außerhalb der Metropolen die Ausbreitung des Virus in alle Regionen befördert. Und obwohl SARS-CoV-2 inzwischen global verbreitet ist, existieren für die superreichen Eliten auch im Falle einer Infektion luxuriöse Exit-Optionen: In der Schweiz bietet eine Hotelkette für Gutbetuchte Luxusappartments als Quarantäneunterkunft an. Services wie Essenslieferdienste, medizinische Versorgung und Entertainmentsysteme gegen Langeweile können dazu gebucht werden (Zumach 2020). Fast ungeschützt sind jedoch die Bewohner*innen von Armutsvierteln, Favelas, Slums und Flüchtlingslagern dem Virus ausgesetzt. Diese Ghettos bedeuten für ihre Bewohner*innen gegenüber einer Corona-Infektion ein »no-exit fate« (Bauman 2013). Sie sind zudem in der Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar, weil sich viele Hilfsorganisationen, NGOs und Reporter*innen von dort zurückgezogen haben – aus Angst vor einer Infektion.

Literatur

Bauman, Zygmunt (2013): Community: Seeking safety in an insecure world, John Wiley & Sons.

Cass, Noel/Manderscheid, Katharina (2019): The autonomobility system: Mobility justice and freedom under sustainability. In N. Cook & D. Butz, (Hg.): Mobilities, Mobility Justice and Social Justice, London/ New York: Routledge, S. 101-115.

Hannam, Kevin/Sheller, Mimi/Urry, John (2006): Editorial: Mobilities, Immobilities and Moorings.In:  Mobilities, 1(1), S. 1-22.

Malet, Jean-Baptiste (2020): Hinter den Mauern von Amazon. In der Krise boomt der Online-Handel. Logistikzentren entpuppen sich als Infektionsherde und Gewerkschaften kämpfen für Schutzmaßnahmen. In: Le Monde diplomatique vom 29.04.2020. https://taz.de/Aus-Le-Monde-diplomatique/!5682191&s=amazon

Möhring, Katja/Naumann, Elias/ Reifenscheid, Maximiliane et al. (2020): Die Mannheimer Corona-Studie: Schwerpunktbericht zu Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung. https://www.uni-mannheim.de/media/Einrichtungen/gip/Corona_Studie/2020-04-05_Schwerpunktbericht_Erwerbstaetigkeit_und_Kinderbetreuung.pdf

Urry, John (2007): Mobilities. Cambridge: Polity.

Wolff, Reinhard (2020): Corona-Eindämmung in Schweden: Holz- oder Königsweg? In: taz – die tageszeitung vom 03.05.2020.

Zumach, Andreas (2020): Coronatest als Roomservice. Luxusquarantäne in Schweiz. taz – die tageszeitung vom 31.03.2020. https://taz.de/Luxusquarantaene-in-Schweiz/!5675581&s=Luzern+Hotel+Corona