Neue Psychiatrie ↗
Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft
»Während die akademische Psychiatrie sich zunehmend nur noch um sich selbst dreht, zeichnen sich in der Versorgungspsychiatrie wichtige Neuerungen ab. Die Vielfalt dieser Neuerungen und ihr innovatives Potenzial
Felix Hasler
aufzuzeigen ist das Hauptanliegen des Buchs.«
Adele Framer, pensionierte Software Designerin aus San Francisco, ist die Gründerin der Webseite SurvivingAntidepressants.org. Die energische ältere Dame dürfte weltweit zu den Top-Expert*innen für Psychopharmaka-Entzug zählen. Unter dem Pseudonym »Altostrata« hat Framer nach eigenen Angaben schon über zehntausend Personen zum Absetzen von Antidepressiva und anderen Psychopharmaka beraten. Die eigene jahrelange Leidensgeschichte mit dem Absetzen des SSRI-Antidepressivums Paroxetin veranlasste Framer, eine Internet-Selbsthilfegruppe zu starten, in der Betroffene Tipps zur Dosisreduktion geben, beschreiben, mit was für Entzugssymptomen zu rechnen ist und erklären, wie man damit umgeht. Man könnte bei dieser Webseite schon fast von Notwehr reden. Wie Framer in einem Erfahrungsbericht in der Zeitschrift Therapeutic Advances in Psychopharmacology schreibt, gab es in den 2000er Jahren noch so gut wie keine verlässlichen medizinischen Informationen zum Absetzen von Psychopharmaka und erst recht keine praktische Hilfe von offizieller Seite. Sie hätte damals wohl Dutzende von Psychiatern kontaktiert und alle – mit einer einzigen Ausnahme – hätten ihr erklärt, sie habe einen Rückfall. Einen Rückfall in welche Krankheit, muss man sich hier allerdings fragen, denn Antidepressiva hat Frau Framer wegen »Stress bei der Arbeit« bzw. ein paar Jahre früher wegen prämenstrueller Beschwerden verschrieben bekommen. Dass Psychiater Entzugssymptome nicht erkennen, sei in der Praxis leider der Regelfall, weiß die autodidaktische Entzugs-Expertin zu berichten: »Das Versäumnis der Verschreibenden, Entzugssymptome zu erkennen, zu beobachten und rechtzeitig zu behandeln, ist der Grund für fast jede Webseiten-Mitgliedschaft. Bei ihren Bemühungen, von den Medikamenten loszukommen, wurde fast allen gesagt, dass sie einen Rückfall hätten – sogar den vielen, die brain zaps erlitten haben – ein Hauptmerkmal des Entzugssyndroms. Und besonders denjenigen, die seit Jahren an mysteriösen Symptomen litten, die mit dem protrahierten Psychopharmaka-Entzugssyndrom (PWS) in Einklang stehen.«
Trotz anderslautenden Behauptungen lassen sich Rückfall und Entzugssymptome sehr wohl voneinander unterscheiden. Zum einen gibt es eine klare zeitliche Korrelation zwischen dem Auftreten neuartiger Symptome und dem Auslassversuch bzw. der Dosisreduktion. Während sich ein depressiver Rückfall typischerweise über einen längeren Zeitraum und mit bereits bekannten Symptomen anbahnt, treten Absetzreaktionen unregelmäßig in Wellen und Zeitfenstern auf. Zudem berichten Patienten davon, Symptome zu haben, die sie vorher noch nie oder nicht in dieser Intensität gehabt hätten. Ebenfalls häufig kommt es in diesem Zusammenhang zu Rebound-Phänomenen: Die Symptome der Grunderkrankung kehren in stärkerer Form zurück als vor Beginn der Medikation. Man kann dies mit einem unter Wasser gedrückten Ball vergleichen. Wird er plötzlich losgelassen, taucht er nicht nur an die Oberfläche, sondern springt weit in die Höhe.
Hausärzte verschreiben zu häufig Psychopharmaka
Wenn die Psychopharmaka-Verschreibungszahlen in den letzten zwanzig Jahren nicht derart außer Kontrolle geraten wären, müsste man sich auch weniger mit Nebenwirkungen, Absetzproblemen und Langzeitfolgen beschäftigen. Eine wichtige Frage zur Klärung der Ursachen für die noch immer weiter zunehmende Übermedikation ist daher, wer diese erstinstanzlich verschreibt. In Deutschland stammen etwa ein Drittel der Psychopharmaka-Verordnungen von Allgemeinmedizinern. In den USA werden sogar drei Viertel aller Antidepressiva-Verschreibungen von Medizinern vorgenommen, die keine Fachärzte für Psychiatrie sind, allen voran Allgemeinpraktiker, aber auch Gynäkologen und Kinderärzte. Und das ist ein Problem. Denn bei den Hausärzten werden erfahrungsgemäß vor allem Menschen mit leichten und mittelschweren Depressionen vorstellig. Oder auch mit gar keiner. Bei der Mehrzahl der Hilfesuchenden in den normalen Arztpraxen dürfte die gestellte Diagnose »Depression« nämlich falsch sein. Eine Studie des John Hopkins Professors Ramin Mojtabai hat ergeben, dass nur gerade achtunddreißig Prozent der Patienten, die von amerikanischen Hausärzten die Diagnose »Depression« bekamen, die klinischen Kriterien dafür tatsächlich erfüllten, wenn man die Diagnosen mit strukturierten Interviews gemäß Diagnosemanual DSM überprüfte. Nichtsdestotrotz bekommt ein erheblicher Teil der Patienten ihr Antidepressivum zum ersten Mal im Rahmen der Grundversorgung vom Hausarzt verschrieben – nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch hierzulande.
Die reflexartige Antidepressiva-Verschreibung durch Allgemeinmediziner ist dringend revisionsbedürftig, zumal in Deutschland seit 2015 auch die offiziellen Leitlinien der DGPPN festschreiben, dass bei mild ausgeprägten Depressionen Antidepressiva nicht mehr Mittel der ersten Wahl sein sollen: »Bei leichten Depressionen ist ein Unterschied zwischen Placebo und Antidepressiva statistisch nicht nachweisbar, so dass nur sehr wenige Patienten von einer Behandlung mit Antidepressiva profitieren dürften.« Psychopharmaka werden auch deshalb so häufig von Hausärzten verabreicht, weil dies die schnellste und am einfachsten verfügbare Therapieoption ist. Oft sogar nur mit der Absicht einer Überbrückung bis ein Psychotherapieplatz frei ist. Wenn aber die zunehmend propagierte »aktiv-abwartende Begleitung« nicht akzeptiert wird, keine Aussicht auf baldige Psychotherapie besteht und auch Alternativen wie Ausdauersport oder Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion abgelehnt werden, bleibt auch dem zurückhaltendsten Hausarzt eigentlich nur noch der Griff zum Rezeptblock. Irgendetwas muss man ja tun.
Es liegt eben auch wesentlich an den Patienten selbst, dass die Verschreibung von Antidepressiva außer Kontrolle geraten ist. Die überwiegende Zahl der Menschen nimmt Psychopharmaka nicht, weil sie dazu genötigt werden, sondern weil sie glauben, dass es ihnen hilft. Betroffene gehen mit der Vorstellung einer schnellen Lösung zu ihrem Arzt: »Finden Sie heraus, was ich habe und sorgen Sie dafür, dass es schnell wieder weg geht.« Und verlangen gleich selbst nach den Medikamenten, die ihren vermeintlichen Botenstoffmangel im Gehirn beheben. So läuft das aber nicht – oder höchstens im Ausnahmefall. Einmal abgesehen von akuten Trauma-Erfahrungen entwickeln sich psychische Erkrankungen in aller Regel über Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg. Die spezifischen Akutsymptome sind dann nur die letzte Endstrecke eines langen Prozesses. Schon deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine schnelle Behandlung mit Antidepressiva oder Ähnlichem eine plötzliche wundersame Wende, eine heilende Umkehr zum Guten bewirken können. Psychische Störungen sind keine Infektionskrankheiten und Psychopharmaka keine Antibiotika. Auch wenn wir das gerne anders hätten: Es gibt keine eiligen Lösungen, schon gar keine pharmazeutischen, und es führt kein Weg daran vorbei, sich für eine nachhaltige Besserung der eigenen Befindlichkeit intensiv mit sich selbst und den Umständen seiner Lebensführung auseinanderzusetzen.