Die Gabe ist ein Bündnisstifter. Sie sorgt dafür, dass man eher Freund als Feind wird. In diesem Sinne, weit entfernt von der Nächstenliebe, die erst viel später, in ihrem Gefolge, mit dem Auftreten der großen universalistischen Religionen, entstehen wird, ist sie ein genuin politischer Akt. Aber wenn man bei dem Bündnis nicht auf seine Kosten kommt, wenn im Rahmen der grundlegenden Unbedingtheit eine der Parteien sich benachteiligt fühlt, dann beginnt man, Rechnungen aufzumachen und zu begleichen. Das Regime der Gabe ist also weder das der strikten Unbedingtheit, wie es von den Verfechtern der reinen Liebe oder der reinen Gabe vertreten wird, noch das der allgemeinen Bedingtheit, von der allein diejenigen ausgehen, die nur auf Grundlage der Axiomatik des Interesses argumentieren können. Es ist das der bedingten Unbedingtheit. Beziehungsweise es gehorcht weder dem alleinigen Eigeninteresse noch dem alleinigen Interesse für andere (aimance). Im Rahmen einer Verpflichtung, der sozialen Verpflichtung, zu geben, zu empfangen und zu erwidern, manifestiert es seine Kraft, seine Wirksamkeit, seine Macht nur dann, wenn es von der Freiheit und Kreativität des Gebers zeugt und wenn es im Gegenzug der Empfängerin die Freiheit lässt, zu erwidern oder nicht zu erwidern. Früher oder später, im gleichen Umfang, weniger oder mehr usw. zu erwidern.
Das Paradigma der Gabe ↗
Eine sozialtheoretische Ausweitung
Es gibt keine Gesellschaft ohne Gaben. Nicht Marktprinzipien organisieren soziale Beziehungen, sondern Geben, Nehmen und Erwidern als dreifache Verpflichtung. Im Anschluss an Marcel Mauss legt Alain Caillé einen umfassenden Neuentwurf der Sozialtheorie der Gabe vor. Dazu synthetisiert er die seit rund 40 Jahren vorgenommene Bemühung um ein Gabenparadigma, insbesondere die Arbeiten der französischen MAUSS-Gruppe, die für einen Anti-Utilitarismus in den Sozialwissenschaften plädiert.
Diese Mauss‘sche Auffassung der Gabe bietet einen sicheren, zugleich empirisch begründeten und (in seiner Mehrdeutigkeit) hinreichend geklärten Ausgangspunkt sowohl für die empirische Forschung in den Sozialwissenschaften als auch für die auf dem Gebiet der politischen und Moralphilosophie entwickelten Analysen. Im ersten Fall verweist sie auf einen gesellschaftlichen Zustand, in dem Recht, Wirtschaft, Politik, Religion, Verwandtschaft und Sozialität noch nicht auseinandergetreten sind und in dem sich die Gabe dann als das manifestiert, was Mauss ein gesellschaftliches Totalphänomen (oder -faktum) nennt. Der politischen und Moralphilosophie eröffnet sie die Möglichkeit, eine Art Urzustand der Moral – was Mauss als »Fels der unvergänglichen Moral« bezeichnete – und der Politik in Betracht zu ziehen. Aber was hat das mit den heutigen Gesellschaften zu tun? Einer der großen Fortschritte von MAUSS besteht darin, gezeigt zu haben, dass die Gabe keineswegs ein Randphänomen darstellt, das sich beispielsweise auf Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke beschränkt, sondern auch heute noch im Rahmen der primären Sozialität, der Gesamtheit der zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen von der Familie bis zur Freundschaft oder der Welt der Kleinverbände die Persönlichkeit des Einzelnen wichtiger ist als das, was er tut, sehr präsent ist. Und dass selbst im Bereich der unpersönlichen und funktionalen Beziehungen, die theoretisch die Welt der sekundären Sozialität (des Marktes, der Wirtschaft, der Verwaltungen, der Wissenschaft usw.) regieren, da die Funktionen in Wirklichkeit immer von konkreten Personen ausgeübt werden, es weitgehend die Qualität der sie verbindenden Gabe- und Gegengabebeziehungen ist, die ihre funktionale Wirksamkeit bestimmt. Von dieser Entdeckung ausgehend ist es möglich, das Gabenparadigma in den verschiedensten Bereichen zu entfalten, von der Medizin bis zur Wirtschaft, vom Sport bis zur Familie oder zum Vereinswesen usw.
Um ihr ihre volle Tragweite zu geben, muss die Entdeckung von Mauss jedoch zunächst einmal präzisiert, erläutert und vervollständigt, aber auch erweitert und verallgemeinert werden. [Wir sollten] nicht zögern, über die Ausführungen von Mauss hinauszugehen, wenn sie eindeutig unvollständig sind. Dies ist der Fall beim Thema der dreifachen Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern. Dass Mauss sie identifiziert und benannt hat, ist eine echte wissenschaftliche Errungenschaft, die es ermöglicht zu verstehen, dass wir uns im Laufe unseres Lebens in vielfältige Gabe-Netzwerke eingebunden sehen, in denen wir abwechselnd Geberin, verschuldete Empfängerin oder mehr oder weniger von unserer Dankesschuld befreite Gegenleisterin sind. Aber bei genauerem Nachdenken wird schnell klar, dass dieser Zyklus nicht funktionieren könnte, wenn er nicht von einem vierten Moment in Gang gesetzt würde (das sich dem Register der sozialen Verpflichtung weitgehend entzieht, weil es auf die Schwäche des einzelnen Subjekts verweist), das Moment der Bitte, unabhängig davon, ob letztere explizit formuliert oder vom Geber einfach nur vorweggenommen oder erahnt wurde. Denn welchen Sinn hätte eine Gabe, wenn sie nicht einem Wunsch oder einem Bedürfnis des Empfängers entspräche?
Der vollständige Gabezyklus ist folglich der des Bittens-Gebens-Annehmens-Erwiderns (BGAE). Aber das ist der Zyklus, der sich abspielt, wenn alles halbwegs richtig läuft, d.h. wenn die Gabe wie ein Mechanismus funktioniert, der alle Fäden verknüpft, die die sozialen Akteure miteinander verbinden. Nennen wir ihn den symbolischen Zyklus der Gabe, wobei wir auf die Etymologie des Wortes Symbol zurückgreifen: was zusammenbringt. Dieser symbolische Zyklus existiert jedoch nur durch seinen oft unsicheren und stets zu erneuernden Sieg über den entgegengesetzten Zyklus, den diabolischen Zyklus (dessen, was trennt) des Ignorierens-Nehmens-Ablehnens-Behaltens (INAB). Mit dieser Klarstellung beginnen wir, über eine ansehnliche Zahl von Elementen einer elementaren Grammatik der sozialen Beziehungen zu verfügen.