Das Buch

Bastian Lange / Martina Hülz / Benedikt Schmid / Christian Schulz (Hg.)

Postwachstumsgeographien

Raumbezüge diverser und alternativer Ökonomien

Der Band »Postwachstumsgeographien« untersucht die Raumbezüge diverser und alternativer Ökonomien im Spannungsfeld von wachstumsorientierten Institutionen und multiplen sozialökologischen Krisen.


Die Anthologie »Postwachstumsgeographien – Raumbezüge diverser und alternativer Ökonomien« stellt räumliche Perspektiven für Postwachstumsprozesse vor. Zum einen werden erstmals mehrheitlich deutschsprachige fachakademische Positionen präsentiert, die zum anderen durch Interviews aus Aktivistennetzwerken sowie mit Intermediären und Praktikern ergänzt werden.

Eskalationsstufen sind selten ein guter Wegbegleiter für thematische Differenzierungen. Seit mehreren Dekaden wächst jedoch – dynamisiert durch ökologische Krisen, Nord-Süd-Ungleichheiten und bislang noch unwirksame Gegenmaßnahmen – das gesellschaftliche Bewusstsein, dass ein »Weiter so« nicht zukunftsfähig ist. Die Geographie begründet sich als Disziplin mit der Erklärung von Transformation, doch die Erfassung neuer postwachstumsbasierter Räume und ihre Potentiale für eine andere Zukunft ist erstaunlich jung.

Die Anthologie stellt Perspektivräume vor, in denen neue (verkürzte) Arbeitsprozesse und generell neue Verständnisse von Arbeit zu erkennen sind. Hier werden Perspektiven in Form von Orts-, Netzwerk- und Positionierungsbezügen zwischen Praktiken und Prozessen der Postwachstumsökonomien aufgezeigt, um das Verständnis von Postwachstum zu stärken. Dabei werden auch die räumlichen Strategien und sozialen Innovationen dieser Praktiken und Prozesse in den Blick genommen.

Des Weiteren werden in dem Buch Möglichkeitsräume vorgestellt. Hier stehen Perspektiven und Einschätzungen von Akteur*innen im Feld der Postwachstumsökonomie samt ihrer  Umfeld-, Raum- und Ortsbezüge im Mittelpunkt. Soziale Innovationen, neue Wohnraumplanungen oder Produktionsprozesse (Makerspaces) sind Gegenstand einer konzeptionellen Einordnung. Praktische Zwischenraumlösungen, von denen aus neue Impulse für Raumaktivierungen zu beobachten sind, geben den sozialtheoretischen Erklärungen ein konkretes Gesicht.

Alternative Räume sind selten Wohlfühloasen, sondern Ausdruck von manifesten Konflikten mit neuen Lösungsideen. Ein Kapitel widmet sich daher Konflikträumen zwischen dem globalen Süden und Norden sowie diskursiv abgeschotteten Sozialräumen und wirkungsvollen Meinungsführerschaften. Praxisinterviews aus EU-Perspektiven werfen ein differenziertes erstes Bild auf das EU-Leitmotiv eines »Green Deals«.

Schließlich werden Gestaltungsräume abgebildet, die sich mit Konsequenzen aus den zuvor dargelegten Problemstellungen und Analysen für die Raum- und Siedlungsplanung auseinandersetzen. Weil Stadt- und Raumplanung zukünftige Räume gestaltet, stellt die Anthologie hier relevante Zielbilder und Eckpunkte einer »vorsorgeorientierten Postwachstumsökonomie« vor. Notwendigerweise sind dafür planerische, künstlerische sowie digitale Experimente in Transformationsregionen essentiell, um neue Planungsbausteine überhaupt zu identifizieren und Handlungssicherheit zu erproben und zu erlangen.

Die Fertigstellung der Anthologie erfolgte zeitgleich zum globalen Ausbruch der Corona-Pandemie. Neben Maßnahmen zur gesundheitlichen Risikoeindämmungen hat diese Krise aber auch die Relevanz von Fragen nach alternativen Zukünften verstärkt. Auf der Suche nach Auswegen aus der Ära des desaströsen Globalismus sind alternative Ökonomien in zweierlei Hinsicht richtungsweisend.

Zum einen entsteht ein breites gesellschaftliches Bewusstsein, dass ein »Weiter wie bisher« nicht gangbar ist. Neben individuellen Ansätzen, den Ernährungs-, Mobilitäts- und Konsumalltag praktisch umzubauen, entstehen für einige Berufsgruppen neue, verträglichere Arbeitsmuster (Home Office!), akzeptiertere Care-Modelle, Hinwendungen zur Stärkung des lokalen Einzelhandels sowie regional angebauter Lebensmittel. Neben dem überraschend reichhaltigen, pluralen Angebot an Alternativen samt der jeweiligen Diskursräume zeigt sich aber auch ein Diskurs pauschalisierter Abwehr: So titelte Alexander Neubacher bei Spiegel Online am 31.07.2020 »Weniger ist weniger« und versuchte, das »Philosophengerede« über »Degrowth« und »Postwachstum« als Traumdeutung verblendeter Verzichtsfanatiker abzuwerten. Derartige Verballhornungen lassen sich eigentlich nur als Kulmination von »Beharrungsavantgarden« durch Ewiggestrige lesen, deren Informationsbedürfnis sich über das Ranking der Spiegel-Bestellerlisten speist. Hätten sie die Werke der im Sommer prominent vertretenen Maja Göpel und sogar David Precht wenigstens gelesen, es wäre ihnen ein wenig geholfen.

Sogar Pop-News-Magazine wie Vice.de griffen mit der Überschrift »Covid-19 schrumpft die Wirtschaft – na und?« am 27.07.2020 das Thema Postwachstum auf. Der Fokus lag dabei auf der Frage, warum es plausibel sei, gerade jetzt einen nötigen wirtschaftlichen Umbau einzuleiten. Die Autorin macht klar, dass Postwachstum nichts mit Schrumpfung zu tun hat. Interessant ist ein Blick in die Kommentare der Leserschaft, in denen kurzatmig Postwachstum als Elitendiskurs, Wohlstandsallüren oder realitätsferne Beschreibung des Lebens angegriffen und abgetan wird.

Es ist sicher nicht von der Hand zu weisen, dass bestimmte, dem Postwachstum zuzuordnende Motive und Bewegungen, aber auch Privilegien, die bei der Wahl von Lebensführung und Arbeitsentscheidungen relevant sind, einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht zuzuordnen sind. Wie also umgehen mit den polarisierten Zuschreibungen zum Motiv »Postwachstum«? Wir leisten mit der Anthologie einen Beitrag, um dem Phänomen ein Mehr an begründeter Bodenhaftung zu geben und das Potential dieses Phänomens für etablierte Kernbereiche wie Arbeit, Finanzen, Wohnen, Planung, Produktion, Commons und Stadtentwicklung argumentativ vorzubereiten.

Da die Corona-Pandemie das Leben aktuell in vielen Bereichen stark und mit Nachhall verändert, gilt es diese Bausteine einer neuen zukunftstauglichen Lebensform in die Praxis einzubringen. Bisher wirkt die Pandemie vor allem wie ein Scheinwerfer auf bestehende Konfliktlinien und Probleme. Hektisch wird ein »Zurück zur Normalität« gesucht.

In der politischen, medialen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Covid-19-Pandemie taucht der Postwachstumsdiskurs vermehrt auf und stellt der bisherigen Wachstumsfixiertheit – bei allenfalls nachrangiger Gemeinwohlorientierung – unseres Wirtschaftssystems und seines institutionellen Kontexts ein alternatives Modell zur Seite. Damit sind nicht Diskussionen gemeint wie z. B. die oft stark vereinfachte Globalisierungskritik und ihre Lösungsvorschläge (»Produktion in Deutschland für Deutschland« oder »Medikamentenproduktion nach Deutschland zurückholen«) oder die teils romantisierenden Entschleunigungsdiskurse sozioökonomisch privilegierter Bevölkerungsgruppen.

Dass aber eine Rückkehr zu einem Wirtschaftssystem, das nicht zuletzt die Pandemie ermöglicht hat, wenig aussichtsreich ist, sollte allen durch die Erfahrung in 2020 klar sein. Denn die Dynamiken der ausbeuterischen Wirtschaftsweise können und sollten nicht Zielbild einer postpandemischen »Aktivierungsstrategie« des Status Quo sein. Vielmehr geht es um alternative Wege und Mobilisierung, Verbreitung und Etablierung von alternativen Praxisformen.

Die Bewältigung der skizzierten Probleme wird lokal und regional stark unterschiedlich ausfallen, sodass sich geographische Unterschiede mehr ausdifferenzieren und verstärkt zu erkennen geben werden. Damit ist die aktuelle Diskussion um Postwachstumsgeographien nicht nur ein spannender Gegenstand für die akademische Geographie und die Raumwissenschaften, sondern auch eine praktische Frage, nämlich wie postpandemische Bedingungen und Postwachstumsprozesse zu einem bewältigbaren Gesamtpaket an regional unterschiedlichen Gestaltungsansätzen führen.

In diesem Sinne bietet die aktuelle Krisensituation viele Anknüpfungspunkte an die Themen und Forderungen von Postwachstum und unterstützt die Dringlichkeit einer reflexiven Neuorientierung ökonomischer, politischer und sozialer Institutionen jenseits einer einseitigen Wachstumsfixierung.

Insbesondere aus raumwissenschaftlicher Perspektive bietet die Pandemie einen wichtigen Anlass, um bestehende räumliche und soziale Muster neu zu denken. Und der räumlichen Planung bietet sie die Gelegenheit, auf nachhaltigere und gerechtere Rahmenbedingungen hinzuwirken.

Entstehungskontext

Die Idee für dieses Buch entstand durch die Zusammenarbeit der Herausgebenden und mehrerer Beitragender im Arbeitskreis »Postwachstumsökonomien« der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL). In diesem Rahmen trafen sich von Mitte 2017 bis Mitte 2020 ein gutes Dutzend Geograph*innen, Wirtschaftswissenschaftler*innen sowie Raum- und Landschaftsplaner*innen aus Deutschland, der Schweiz und Luxemburg halbjährlich an wechselnden Orten zu Workshops, um das Thema für die Raum- und Planungswissenschaften systematisch aufzubereiten.