Auszug aus der Zeitschrift

Spätestens seitdem Patrick Süskind in Das Parfum LeserInnen in die Geruchswelt Frankreichs des 18. Jahrhunderts mitnahm und das fesselnde Leben des (Anti-)Helden Grenouille auf der mörderischen Jagd nach dem perfekten Geruch erzählte, braucht man wohl niemanden mehr von dem Potenzial einer olfaktorischen Geschichte zu überzeugen. Gerüche, vom Duft zum Gestank, sind wesentlicher Teil der Wahrnehmung unserer Umgebung. Diese Wahrnehmung findet zu jedem Zeitpunkt statt, da sie selbst passiv bei der Mundatmung geschieht. Atmen heißt damit letzten Endes auch Riechen. Dabei leidet der Geruchssinn in der von elektronischen Kommunikationsmedien geprägten Gegenwart unter einem Wettbewerbsnachteil, da Gerüche weder auf dem Bildschirm abgebildet noch in einer Sounddatei festgehalten werden können. Und doch spielt der Sinn eine stetige und wesentliche Rolle: beim Erkennen unserer Mitmenschen, für das eigene Wohlbefinden, bei der Gefahreneinschätzung und nicht zuletzt für die Liebe. Die Covid 19-Pandemie offenbarte diesen Stellenwert des Riechens im Alltag auf eindrückliche Weise. Nicht nur die Lähmung von Geruchs- und Geschmackssinn durch das Virus machte dies deutlich, sondern auch die medizinisch sinnvolle Maskenpflicht, die eine vielfältige Geruchswahrnehmung durch frischen Kunststoffhauch und sterilitätssuggerierenden Krankenhausdunst überdeckte. Gerüche, das ist gegenwärtig und historisch erfahrbar, sind zentrale Auslöser für Emotionen. Gerade wegen dieser Wirkmächtigkeit waren sie immer wieder Gegenstand wissensbasierter Interpretationsmodelle, die soziales Verhalten und politische Entscheidungen legitimierten.


Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V. (Hg.)

WerkstattGeschichte
2023/1, Heft 87:
Reizende Gerüche

WerkstattGeschichte ist eine Zeitschrift, in der über Geschichte und ihre Akteur*innen ebenso reflektiert wird wie über historisches Forschen und Schreiben. Sie bietet Platz, konventionelle Perspektiven zu durchbrechen und neue Formen der Darstellung zu erproben. Die Zeitschrift bleibt der Sozialgeschichte verbunden, legt aber deutlichen Wert darauf, die große Geschichte aus einer alltagsgeschichtlichen Perspektive zu befragen.


Olfaktorische Wahrnehmung und ihre Interpretation sind in hohem Maße durch gesellschaftliche Vorbedingungen determiniert. Entsprechend werden in diesem Heft Dimensionen kultureller und sozialer Konstruktion sowie historischer Wandelbarkeit thematisiert. Sinnliche Wahrnehmung unterliegt erstens einer nicht selbstverstänlichen, weil kulturell bedingten Hierarchie. Zumindest im europäisch-nordamerikanischen Kontext gilt heutzutage das Auge mehr oder weniger implizit als Primärorgan, die Erfassung der Welt durch Ohr und vor allem Nase oder gar Zunge und Haut kommt an sekundärer und tertiärer Stelle.
Darüber hinaus ist die Bewertung von Gerüchen, wie von Sinneseindrücken generell, Produkt einer Konditionierung, sie ist zu großen Teilen erlernt und anerzogen. Konditionierung geschieht wiederum im gesellschaftlichen Kontext und ist kulturell kodiert. Die kulturelle Prägung entscheidet dabei nicht nur darüber, was duftet oder stinkt, anzieht oder abstößt, was als Parfum Weiblichkeit oder Männlichkeit betonen soll oder was für Macht und Elend steht, sondern auch darüber, welchem Geruch überhaupt Aufmerksamkeit beigemessen wird. Düfte, so lässt sich hiervon ableiten, sind gesellschaftlich konstruiert, ihre Wahrnehmung ist wandel- und politisierbar.

Zweitens war und ist die Wahrnehmung von Geruch auch stets von sozialen Gegebenheiten abhängig und Geruchszuschreibungen können als Marker von gesellschaftlicher Distinktion dienen. Alain Corbin analysierte schon früh, wie Hygieniker und Beamte im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts stinkende Elendsquartiere mit Krankheiten in Verbindung brachten. Armut habe so ein neues Stigma erhalten; Geruch sei, so argumentieren es auch andere ForscherInnen, zum Mittel der Distinktion geworden, das zugleich Andersartigkeit konstruiert und antisemitische, nationalistische oder koloniale Ausgrenzung und Gewalt legitimiert habe. Dabei war das Vermögen, auf Geruch zu reagieren, natürlich sozial bestimmt. HistorikerInnen zeigten, dass Gestank in Hygienediskursen um 1900 zum Politikum wurde. Meist geschah das in obrigkeitlicher Top-down-Intention, die auf die Herstellung gesellschaftlicher Gesundheit zielte und schließlich zum Bau von Kanalisationen führte.

Sinnliche Wahrnehmungen, und das macht ihre Wirkmächtigkeit im Kern aus, sind Auslöser für viele Emotionen und auf sie folgende Reaktionen. Im Extrem zeigt dies der Geruch von Krieg und Tod. Gerade Geruchserfahrungen lösen häufig nicht abwägende, nuancierte Interpretationen aus, sondern Emotionen wie Ekel oder Angst aber auch Genuss und Lust. Dabei sollten aber abstoßender Abscheu und anziehendes Wohlbehagen nicht als strikt gegenteilige Gefühle verstanden werden. Kaum zufällig spielen Geruch und Emotionen für Erinnerungen in ihrer heterogenen Form eine wesentliche Rolle. Eine Analyse olfaktorischer Wahrnehmung, und das ist das Reizvolle daran, ist ein polarisierender Ausflug in die Welt der Widersprüche, des Unbewussten und vermeintlich Irrationalen. Das heißt natürlich nicht, dass über Gerüche nicht geschrieben wurde, gerade von emotionalen Reaktionen auf sie berichten die Quellen. Bei deren Interpretation fehlt aber noch immer ein näheres Verständnis davon, wie und warum Gewohnheiten der Sinneserfassung zeit- und kontextgebunden zu bestimmten emotionalen Reaktionen führten.