Detlef Pollack

Das unzufriedene Volk
Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute




– Platz 7 auf der Sachbuchbestenliste Oktober 2020 –
Friedliche Revolution und Protest in Ostdeutschland. Die Macht des Volkes als politischer Akteur in Diktatur und Demokratie.



In der Rezension von Steffen Mau zu meinem Buch »Das unzufriedene Volk« (SZ vom 12. Oktober 2020) finden die Kernaussagen, so will mir scheinen, keinen Platz. Mir kommt es darauf an, den Blick von der lautstark auftretenden unzufriedenen Minderheit der Ostdeutschen auf die leise Mehrheit zu lenken, die die marktwirtschaftliche und demokratische Ordnung der Bundesrepublik akzeptiert, in dieser ihren Platz gefunden hat und die Bilanz der Einheit positiv einschätzt. Meines Erachtens gibt es eine auffällige Diskrepanz zwischen dem auf Klage und Empörung gestimmten öffentlichen Diskurs der Ostdeutschen und der von ihnen in repräsentativen Umfragen bekundeten mehrheitlichen Zufriedenheit mit ihrer persönlichen Lage. Das ist der Skopus meines Buches. In einem letzten kurzen Kapitel komme ich auch auf den Mangel an Selbstkritik unter den Ostdeutschen zu sprechen und belustige mich über ihre die Selbstgerechtigkeit, die mich in der Tat nervt, die man aber auch als eine etwas überzogene Form des Selbstbewusstseins interpretieren kann. Leider bin ich in meiner Kritik an den kaum zum Selbstzweifel neigenden Ostdeutschen zu weit gegangen. Steffen Mau liest mein Buch von seinen (wenigen) Übertreibungen her und lässt seinen analytischen Kern unbeachtet.

Dass Steffen Mau an den zentralen Thesen vorbeigeht, hat wahrscheinlich einmal mit dem Stil meines Buches zu tun, der sich – wie ausdrücklich vermerkt – nicht nur wissenschaftlicher Argumentation bedient, sondern auch persönlicher Reflexion und distanzierender Ironie.

Wichtiger für die pauschale Ablehnung meines Textes dürfte wohl der kultursoziologische Ansatz sein, den ich verfolge. Während Steffen Mau seine Analyse vor allem sozialstrukturell anlegt und nach den Einflüssen von Alter, Geschlecht, beruflichem Auf- und Abstieg, Einkommen und sozialer Lage fragt – und damit stark auf sozio-ökonomische Merkmale abhebt –, lege ich größeren Wert auf Einstellungen, Haltungen, Mentalitäten und auf das Selbstverständnis der Menschen, also auf die Art, wie sie die Wirklichkeit interpretieren und wie sie ihre eigene Rolle in der Welt wahrnehmen. Die Zuneigung beachtlicher Teile der ostdeutschen Bevölkerung zur AfD zum Beispiel erklärt Steffen Mau vor allem ökonomisch, womit er sich übrigens mittlerweile im Gegensatz zu den meisten empirischen Untersuchungen positioniert. In meiner Analyse mache ich dafür hingegen die auf die 1990er Jahre zurückgehenden Enttäuschungserfahrungen verantwortlich, die sich zu einer Affektlage des Ressentiments verfestigt haben und heute sowohl im Wahlverhalten als auch in öffentlichen Demonstrationen strategisch eingesetzt werden. Den sozialstrukturell argumentierenden Soziologen interessieren diese sozialpsychologisch angelegten Zugänge weniger, auch wenn er sie nicht ausblendet. Es fällt allerdings auf, dass sich in den empirischen Analysen die Erklärungskraft der soziostrukturellen Variablen im Vergleich zu den kulturellen Einstellungsvariablen als überraschend gering erweist.

Möglicherweise spielt aber auch die unterschiedliche Bewertung der DDR und des westlichen Systems, die Steffen Mau und ich vornehmen, eine Rolle. Bei Steffen Mau erscheinen die Lebensverhältnisse in der DDR in einem deutlich helleren Licht als bei mir und die Transformationsprozesse nach 1989 in einem weitaus dunkleren. Dann wäre die Kritik Steffen Maus also Ausdruck eines prinzipiell andersartigen Werturteils über zwei gesellschaftliche Systeme. Darüber zu diskutieren würde sich vielleicht lohnen. Das wäre umso vielversprechender, als ich von seiner Analyse der ostdeutschen Transformationsgesellschaft einiges gelernt habe und als sich seine Einsichten in vielen Aspekten mit meinen Befunden decken.

Meine Argumentation finde ich übrigens in einer neueren Veröffentlichung des Allensbacher Instituts für Demoskopie erneut bestätigt (FAZ vom 23.10.2020). Auch diese Untersuchung betont, dass die Mehrheit der Ostdeutschen die Wiedervereinigung als Erfolgsgeschichte begreift und dass nur noch eine Minderheit von 24 Prozent meint, Bürger zweiter Klasse zu sein. Und es bestätigt sich, dass in Ostdeutschland die für den Westen so typische Kultur des Selbstzweifels kaum ausgeprägt ist. Noch eine Fußnote zu dem Vorwurf, ich würde die Begriffe Volk und Ostdeutsche essentialisieren. Die Bezeichnung »Ostdeutscher/Ostdeutsche« ist eine gewöhnliche sozialstrukturelle Kategorie wie »Rentner/Pensionär« oder »Person mit Migrationshintergrund«. Über Ostdeutsche zu sprechen heißt, sie von Westdeutschen abzugrenzen. Aussagen wie, »Ostdeutsche sind weniger zufrieden mit der Demokratie« oder »Mehr als zwei Drittel der Ostdeutschen schreiben sich selbst Bescheidenheit zu, den Westdeutschen attribuiert gerade einmal ein Prozent diese Eigenschaft« stellen keine illegitime Generalisierung dar, sondern einen sozialwissenschaftlich erhobenen Befund. Anders verhält es sich mit dem Begriff »Volk«. Diese Kategorie ist eine soziale Fiktion, wenn auch eine sozial wirksame. Sie zu benutzen kann unter den Bedingungen fehlender demokratischer Repräsentationsverfahren gerechtfertigt sein; illegitim ist die Berufung auf sie, wenn zur Erhebung des Volkswillens repräsentative Verfahren bereitstehen. Das habe ich, denke ich, in meinem Buch (S. 134, 226f.) unmissverständlich deutlich gemacht.