Inken Bartels / Isabella Löhr / Christiane Reinecke / Philipp Schäfer / Laura Stielike (Hg.)
Umkämpfte Begriffe der Migration ↗
Ein Inventar
Die Begriffe, mit denen über Migration und Diversität geforscht und diskutiert wird, sind keineswegs neutral. Sie sind vielmehr das Ergebnis sozialer Praktiken und als solches selbst Gegenstand von Konflikten. Die Beiträge des Bandes untersuchen die Genese und den oft umstrittenen Gebrauch zentraler Migrationsbegriffe, ihr historisches Gewordensein und ihre politischen Implikationen: von »Ausländer« über »Integration« bis zur »Willkommenskultur«. Die Auseinandersetzung mit diesen kontroversen Begriffen leistet einen Beitrag zu mehr sprachlicher Sensibilität in den aktuellen Diskursen über Migration.
Wir können täglich beobachten, wie umstritten, ja umkämpft Sprache und das Sprechen über sich und andere ist, wenn in Talkshows, in den Sozialen Medien oder auf wissenschaftlichen Tagungen über das ›richtige‹ Sprechen und die adäquate Bezeichnung von sozialen Gruppen und Phänomenen gerungen wird. Das gilt besonders für das Sprechen über migrationsbezogene Fragen: Der Blick auf die jährlich ausgerufenen ›Unworte‹ etwa – von ›ausländerfrei‹ und ›Überfremdung‹ Anfang der 1990er Jahre bis zu ›Rückführungspatenschaften‹ und ›Pushback‹ 2020 und 2021 – legt nahe, dass Migration häufig im Modus des Kontroversen und Spektakulären diskutiert und weniger als normaler und alltäglicher Prozess behandelt wird. Dieser Band untersucht die Konflikthaftigkeit migrationsbezogener Debatten besonders im Hinblick auf ihre diskriminierenden Effekte und die sie strukturierenden Machtverhältnisse; gleichzeitig werden Kämpfe um Migration als Teil einer postmigrantischen Normalität verstanden und anerkannt.
Die Autor*innen des Bandes vollziehen nach, wie in Politik und Medien, Wissenschaft und Aktivismus über Migration, migrantisierte Gruppen und Phänomene gestritten wird. Sie zeigen, dass Begriffe wie ›Diaspora‹, ›Leitkultur, ›Islamisierung‹ oder ›Fluchthilfe‹ daran mitwirken, die Grenzen zwischen ›innen‹ und ›außen‹, Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, Einschluss und Ausschluss in einer Gesellschaft zu ziehen. Die Beiträge ergründen migrationsgesellschaftliche Aushandlungsprozesse und Trennlinien. Deren Genese begreifen sie dabei als einen zwar konflikthaften, aber notwendigen Prozess der Selbstverständigung und der Arbeit von Gesellschaft an sich selbst. Das heißt zugleich, dass die hier versammelten Beiträge migrationsbezogene Begriffe nicht definieren, sondern ihre unterschiedlichen und kontroversen Gebrauchsweisen der Begriffe herausarbeiten. Zudem verdeutlichen sie, dass viele der aktuell gängigen Ausdrücke wie etwa ›Migration‹ oder ›Diversität‹ nicht zeitlos sind. Ganz im Gegenteil: Die Autor*innen zeigen anhand von ausgewählten, für die Debatten über Migration zentralen Begriffen, dass Sprache trotz des ihr innewohnenden Anspruchs auf Allgemeinverständlichkeit und Verbindlichkeit alles andere als universell, neutral und objektiv ist. Begriffe sind weder schon immer da gewesen, noch verweisen sie einfach auf eine ihnen vorausgehende Realität ›da draußen‹. Vielmehr gehen die Autor*innen davon aus, dass sie historisch geworden sind und die von ihnen benannten Phänomene mit hervorbringen. Begriffe sind somit beides – das Resultat gesellschaftlicher Aushandlungen und Konventionen und zugleich in der Lage, soziale Phänomene und ihre Bedeutung mit zu erzeugen. Ein genauer Blick auf migrationsbezogene Begriffe macht also deutlich, wie sehr Sprache im Allgemeinen und das Sprechen über Migration, Gesellschaft und postmigrantische Verhältnisse im Besonderen im Wandel befindlich sind. Umso mehr, als migrationsbezogene Begriffe häufig ihre Bedeutung ändern, wenn sie zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und politischen Strömungen hin und her wandern.
Mit diesem Anliegen greift der Band die sogenannte reflexive Wende in der Migrationsforschung auf. Sie beruht auf der Annahme, dass Migration nicht eine immer schon gegebene, von gesellschaftlichen Deutungen und Aushandlungen unabhängige Tatsache ist. Was in einer Gesellschaft als Migration verstanden und erfahren wird, ist vielmehr in hohem Maße wissens- und bedeutungsabhängig und damit kontingent. Dies schließt das Wechselverhältnis von geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung, Politik und Medien mit ein – ein Wechselverhältnis, das in den letzten Jahren vermehrt zum Gegenstand reger Debatten geworden ist, in denen die Forschung versucht, sich über ihre eigene gesellschaftliche Rolle zu verständigen.
Eine selbstreflexive Perspektive auf die Migrationsforschung beinhaltet also die sehr grundsätzliche – und politische – Frage, wie Migrationsforschung und andere Formen der Wissensproduktion nicht nur zu unserer Wahrnehmung von Gesellschaft und mobilen Menschen beitragen, sondern diese in einem Zusammenspiel aus Begriffen und Kategorisierungen, Theorien und Narrativen, Daten und Fakten mit hervorbringen.
Die Beiträge wollen das Bewusstsein für die Offenheit und Veränderbarkeit von gesellschaftlichen Situationen schärfen und damit zugleich den Blick für Handlungsmöglichkeiten und Gestaltungsräume in Gesellschaft und Wissenschaft öffnen. Das zentrale Anliegen der Herausgeber*innen ist es, auf die Bedeutung von Sprache in den aktuellen Auseinandersetzungen über Migration aufmerksam zu machen und somit Leser:innen zu motivieren, sich informiert und reflektierend in die Diskussionen über Migration einzumischen.
Die in der Buch-Version vertretenen Schlüsselbegriffe wie ›Migration‹, ›Asylsuchende‹, ›Ausländer‹ oder ›Rasse‹ machen einen Ausschnitt der vielschichtigen und vielstimmigen Migrationsdebatte sichtbar, wie sie im deutschsprachigen Raum geführt wird. Die dazugehörige Online-Plattform erlaubt es, auf Tuchfühlung mit der Gegenwart zu bleiben, indem neue Begriffe wie der der ›Armutsmigration‹ oder des ›Klimaflüchtlings‹ aus den dynamischen, bisweilen schnelllebigen Diskussionen über Migration kurzerhand aufgegriffen, analysiert und für eine breite, interessierte Leser*innenschaft erläutert werden. Deswegen laden wir alle Leser*innen ein, die fortlaufende Erweiterung der Begriffsanalysen online zu verfolgen.
Online-Inventar zum Buch: www.migrationsbegriffe.de ↗