
Angela Weber ist forschend und lehrend im Bereich der kulturellen Bildung tätig und legt ihre Schwerpunkte auf transdisziplinäre Bildungsprojekte zu Demokratie, Partizipation und Transkulturalität, ästhetische Praxis und Rassismuskritik. Bis 2020 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Als wir vor drei Jahren eingeladen wurden, ein universitäres Projekt zum Bauhaus-Jubiläum zu gestalten, entschieden wir uns dafür, die drängende Frage nach zeitgemäßer Bildung mit jener visionären (Kunst-)Schule zu verknüpfen, die bis in unsere Gegenwart hinein zu faszinieren und zu wirken vermag. Die Frage nach unserem Morgen bildete dabei die Klammer zwischen unserer krisenerfüllten Gegenwart und unserer Reise in die Zeit der Weimarer Republik. Wir ahnten noch nicht, dass uns eine ›Heimsuchung‹ von ungeahntem Ausmaß bevorstünde, die die ohnehin vorhandenen Parallelen zwischen damals und heute um eine zusätzliche ›ungeheuerliche‹ Komponente ergänzen sollte. Die Pandemie hat unser aller Leben schlagartig verändert und seit mehr als zwei Jahren fest im Griff.
Angela Weber / Lilli Eberhard / Lena Roord (Hg.)
Now! Die Welt gemeinsam gestalten. Bildung neu denken ↗
Das Morgenmachen-Lesebuch
Nach der Pandemie ist vor der Pandemie?! Oder sollte es doch besser eine kulturelle (Kehrt-)Wende geben? Die Beiträger*innen zeichnen ein vielgestaltiges Bild einer Welt im Aufbruch, deren Koordinaten sie neu vermessen. Sie zeigen Möglichkeitsräume auf, denken Bildungsprozesse antihierarchisch und flächendeckend neu, entwickeln eine interdisziplinäre (Zukunfts-)Gestaltung und entfachen sich strahlenförmig ausbreitende Aufbrüche. Im Rahmen des Morgenmachen-Projekts rufen sie die kommenden Generationen dazu auf, mutig neue Wege zu gehen.
Solidarität now: Nur gemeinsam sind wir stark
Wie wird sich diese Erfahrung auf unsere Bereitschaft auswirken, anzuerkennen, dass die imaginären Grenzen meines Lebensraums – seien es territoriale, regionale oder emotionale – mit Blick auf die Zukunft unseres gemeinsamen Planeten ihre sinnstiftende Bedeutung weitgehend einbüßen? Die drängenden Probleme unserer Zeit lassen sich jedenfalls auf diesem Parcours nicht lösen, mehr noch liegt in der an Besitz und Herrschaft gekoppelten Anspruchshaltung der Industrienationen jene unbarmherzige Matrix, deren dunkler Schatten uns in der fehlenden Bereitschaft (wieder)begegnet, das Virus als real existierende globale Herausforderung anzuerkennen und das eigene Handeln darauf abzustimmen.
Diese Krise fordert den Staat, die Demokratie heraus. Um dem Virus Einhalt zu gebieten, bedarf es eines nachhaltigen Wiedererstarkens unserer geschwächten Zivilgesellschaft. Die folgende Stellungnahme des ›Rats für Migration‹ zu den durch die Pandemie noch verschärften katastrophalen Lebensbedingungen vieler Geflüchteter hat einen stark appellativen Charakter und spannt den Horizont für ein bedingungsloses solidarisches Miteinander auf, das nicht mehr an Herkunft, Territorium und Besitz gebunden ist und das den Rahmen unseres Handelns abstecken sollte. Dieser Imperativ verbindet den Willen, das von uns mitverschuldete unermessliche Leiden vieler Menschen nicht mehr zu dulden, mit der Einsicht, dass wir diesen Planeten nur gemeinsam retten können.
»Wir – dies ist kein national oder kontinental bestimmtes Wir –, sollten uns ermutigen, das Projekt globaler und planetarischer Solidarität in der Entwicklung des (eigenen) Denkens, Empfindens und Handelns zu stärken und in diesem Sinne aktiv an der Gestaltung einer weltumspannenden Verantwortungsgemeinschaft mitzuwirken.«
Karakaşoğlu/Mecheril 2020
Das Morgenmachen-Lesebuch will Zeugnis ablegen von den vielfältigen Verflechtungen hyperkomplexer Lebenswelten. So verstanden ist es ein deutliches Bekenntnis zu steter Veränderung, verbunden mit dem Versprechen einer gerechteren Gesellschaft, die aus den Initiativen und der gestalterischen Kraft der Vielen erwachsen kann.
Bildung now
Kinder haben ein Recht auf Bildung. Das ist richtig. Sie haben aber ebenso – wie wir Erwachsene auch – ein Recht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit. Alle Menschenrechte und Grundrechte sind gleichwertig und gleich gültig. Bei der Güterabwägung muss eine ethische Begründung erfolgen. Solange außer dem phasenweisen Tragen von Masken keine weiteren Schutzmaßnahmen in Schulen getroffen werden (Luftfilter, Wechselunterricht, kleinere Lerngruppen, hybride Lernformate etc.), ist es unredlich, Bildung gegen Gesundheit auszuspielen.
Die nachrangig behandelte Frage, wie ein sicheres Lernen in der Pandemie gewährleistet werden kann, zeugt von der fehlenden Bereitschaft (der KMK), Initiative zu ergreifen. So wird aus dem viel gerühmten Sozialraum phasenweise ein Angstraum, und damit das Gegenteil von dem, was unsere Kinder in dieser Zeit gebraucht hätten, nämlich einen Schutzraum, in dem es nicht primär um das Erreichen von Lernzielen geht, sondern wo auch Platz wäre, gemeinsam groß und stark zu werden. Das würde unsere Kinder nebenbei auch besser auf künftige Krisen vorbereiten.
Bauhaus now: den Erinnerungsraum in einen Resonanzraum verwandeln
In Anlehnung an das Bauhaus haben wir das in der Etymologie des Begriffs bereits angelegte performative Moment von Bildung – das Bilden und Gestalten – genauer betrachtet. Seit jeher eignet dem überaus dehnbaren Begriff von Bildung eine Dialektik von Formen und Geformtwerden. Wie lässt sich diese Dialektik produktiv machen innerhalb eines Verständnisses von Bildung, das die generationenübergreifenden Austauschprozesse gleichwertiger Akteur*innen im Sinne einer gesellschaftsverändernden und -formenden Kraft versteht? Das Anstoßen und Moderieren interaktiver Lernprozesse auf Augenhöhe bedarf zunächst eines Blickwechsels und der Bereitschaft aller Akteur*innen, sich auf diesen Prozess einzulassen. Die Frage, wie sich Bildung institutionsübergreifend positiv auf demokratische Prozesse auswirken kann, rückt ihr emanzipatorisches Potenzial in den Blick. So können offene Bildungsprozesse eine wichtige Vermittlerrolle in einem umfassenden gesellschaftlichen Transformationsprozess spielen, wobei die wirksamen Modi Operandi Sichtbarkeit und Teilhabe wären: Wie können, wie wollen wir künftig miteinander lernen? Wo ist dringender Handlungsbedarf? An der Frage, wie es gelingen wird, Bildung für alle zugänglich und attraktiv zu gestalten, entscheidet sich die Zukunft unserer Gesellschaft.
Das Morgenmachen-Lesebuch verstehen wir als eine besondere Form der Wertschätzung für die Anliegen der Schüler*innen und Studierenden, deren gesellschaftlicher Relevanz (als Form der Teilhabe) auf diese Weise noch einmal Nachdruck verliehen werden soll. Dies zielt darauf, sich auch von Universitätsseite kreativ, eigenständig und hörbar in den öffentlichen Diskurs einzumischen, und ist zudem ein Plädoyer für eine aktive Demokratie.