Tod und Tabu in der Pandemie ↗
Kulturökonomische Lehren aus der Covid-19-Politik
Krisen erschüttern das gesellschaftliche Denken über Leben und Tod. In der Covid-19-Pandemie wurde die Individualität des Menschen selbst im Sterben durch das Tabu des kollektiven Sterbens geschützt. Das Virus zwang die Politik in der Abwägung zwischen Gesundheits- und Freiheitsschutz zur Parteinahme für die Alten zulasten der Jungen. Ernst Mohr liefert eine kulturökonomische Autopsie der Covid-19-Politik mit Lehren für die Zukunft. Dabei fokussiert er auf den zum Selbstschutz fähigen Wirtsorganismus Mensch und entwickelt eine Krisenrationalität, die existenzbedrohenden Krisen gerecht wird. So entsteht ein konziser Blick auf ein Ereignis, das nicht das letzte seiner Art gewesen sein wird – und ein Plädoyer für eine künftige Pandemiepolitik ohne Tabus.
Tod und Sterben gelten in der westlichen Gesellschaft als Tabu-Themen. Der Fortschritt der Medizin verlängerte die Lebenserwartung, verbannte den Tod weitestgehend aus dem alltäglichen Leben und machte ihn zur Privatangelegenheit. Als »guter Tod« gilt das Sterben im hohen Alter, zur richtigen Zeit, im engen Kreise von Familie und Freund*innen. Die Privatheit und Individualität unseres Todes wurde durch die Corona-Pandemie bedroht und infrage gestellt. Der Autor Ernst Mohr beschäftigt sich in seinem Buch mit der Frage, wie mit dem Tabuthema Tod und Sterben während der Corona-Pandemie umgegangen wurde und welche Lehren für die Zukunft daraus gezogen werden können.
Wenn es einen Schlüsselbegriff in Ihrem Buch gibt, dann ist es der des Tabus: Sie sprechen von Tabunehmern, -wächtern und von Tabubrechern. Dies kann im ersten Moment irritieren, wo doch das Reden über Tod und Sterberaten in der Pandemie allgegenwärtig zu sein schien. Wodurch also zeichnet sich dieses Tabu in der Pandemie aus?
Tod und Sterben sind immer zugleich präsent und absent. Präsent sind alle Formen, die die Grundfesten der Kultur nicht gefährden: das ›normale‹ Sterben in den jeweiligen Alterskohorten durch Kindersterblichkeit, Unfalltod und Krankheiten, mit denen wir als Gesellschaft auszukommen gelernt haben. Auf deren Häufigkeit ausgerechnet ist das Gesundheitssystem kalibriert worden, in dem das normale Sterben professionell organisiert ist.
Absent im Sinne eines mit einem Denk-, Sprech- und Handlungsverbot belegten Tabus ist das verbotene Sterben, das die Grundfesten der Kultur in Gefahr bringt. Covid 19 traf auf eine westliche Kultur der entgrenzten Individualität und Individualisierung, die auch das Sterben umschließt: Das individuelle Sterben als letzter Akt in einem durchindividualisierten Dasein. Eine Pandemie, wo einer wie die andere zu sterben droht, wirft einen langen Schatten auf dieses Projekt: Was wird aus der entgrenzten Individualität, wenn alle auf dieselbe Weise sterben? Dieses Undenkbare wurde durch das Tabu Mort interdite geschützt. Es verhinderte jede sachliche Auseinandersetzung mit dieser Eventualität und zwang zu einer Covid 19-Politik, die das Volllaufen der Intensivstationen zu verhindern suchte – koste es was es wolle.
Sie betrachten die Covid 19-Politik aus einer kulturökonomischen Perspektive, welche während der Pandemie zu wenig beachtet worden, aber eine unverzichtbare Ergänzung zur naturwissenschaftlich geprägten Epidemiologie sei. Inwiefern unterschieden und ergänzen sich diese Perspektiven?
Die kulturökonomische Perspektive hat mindestens zwei Seiten. Erstens die Folgen des Tabus Mort interdite für den durch Covid 19 ausgelösten gesellschaftlichen Diskurs einschließlich des politischen. Das Tabu erzwang einen gehandicapten Diskurs, der weit entfernt war vom Habermas’schen Diskurs mit gleich langen Spießen von Befürwortern eines radikalen Gesundheitsschutzes und deren Gegnern. Die Folgen waren massiv. Team Freiheit hatte bei der Politikgestaltung keine Chance gegen Team Vorsicht und eine wegen des Tabus artikulationsunfähige Gruppe wurde als Coronaleugner und Impfgegner an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
Eine rein naturwissenschaftliche Aufarbeitung von Covid 19 würde nicht einmal in die Nähe dieser Zusammenhänge vorstoßen. Die Mort interdite gestützte Kritik an der Covid 19-Politik ist nicht, dass die Priorisierung des Gesundheits- vor dem Freiheitschutz zwingend falsch war, sondern dass eine sachliche Diskussion über Alternativen nicht stattgefunden hat. Dies im Hinblick auf eine kommende Pandemie zu ändern ist eine der Schlussfolgerungen aus der kulturökonomischen Perspektive.
Die zweite Seite der kulturökonomischen Perspektive gilt dem Verhalten des Wirtsorganismus Mensch. Der Mensch hegt Hoffnungen, hat Zweifel, erfährt Enttäuschungen, folgt Narrativen und ist zum Selbst- und Fremdschutz fähig. Eine sich primär auf eine naturwissenschaftliche Epidemiologie stützende Pandemiepolitik wird diesem komplexen Wirtsorganismus nicht gerecht. Der einseitig naturwissenschaftlich besetzte Expertenrat, so als ob die Sozial- und Kulturwissenschaften nichts zu Verständnis und Steuerung menschlichen Verhaltens beizutragen hätten, ist keine Blaupause für die Zukunft.
Sie sagen, die Covid 19-Politik tat so, als ob Sterben nur Schaden anrichtet und keinen Wert mehr haben könnte. Welchen Wert kann Sterben denn Ihrer Auffassung nach haben?
In ihrer logischen Konsequenz war die tabubedingte Priorisierung des Gesundheits- vor dem Freiheitsschutz ein Bekenntnis der politischen Akteure zur Utopie des Ewigen Lebens: Ohne Wenn und Aber heute noch nicht (sterben zu sollen) bedeutet auch morgen noch nicht (sterben zu sollen) usw., ad Infinitum. Das Ewige Leben (und die bedingungslose Heute-noch-Nicht Covid 19-Politik) hat ganz praktische persönliche Kosten, die sich in unserer kollektiven Lebenserfahrung spiegeln: »Er durfte gehen« (nach langem Leiden) ist Ausdruck davon.
Darüber hinaus identifizieren Philosophen persönliche Kosten, die sich aus einem ad Infinitum verlängerten Leben ergeben: Seine Endlichkeit sei essenzielles Merkmal des Menschseins; wie kann ich meine Lieben lieben, wenn es keine Umstände gibt, unter denen ich sie verliere; wie kann ich für etwas leben, wenn ich immer alles nachholen kann, was ich versäumt habe; usw. usw.
Die Relevanz dieser Überlegungen ist nicht, daraus Kosten in Euro der Covid 19-Politik ableiten zu können, sondern deren Legitimation zu hinterfragen: War der Gesundheitsschutz ohne Wenn und Aber legitim und welche logischen und ethischen Kurzschlüsse sind dem Tabu Mort interdite geschuldet?
Warum ist die Covid 19-Politik für Sie nicht eine medizinische, sondern eine kulturelle Verteidigungspolitik?
Es geht hier um die Frage, warum schlug die Covid-19 Politik den Weg ein, den sie nahm. Welche Normativität stützt diesen eingeschlagenen Weg? Er lässt sich weitgehend medizinethisch begründen und es gibt bereits Aufarbeitungen, z.B. eine des Robert-Koch-Instituts, die der Covid-19 Politik aus der medizinisch-naturwissenschaftlichen Perspektive eine gute Note geben. Auch aus der Perspektive des Schutzes des Tabus Mort interdite, des Schutzes des Sterbens als letzter Akt im durchindividualisierten menschlichen Dasein, kann ihr ein Gut gegeben werden. In diesem Sinn war sie eine gute kulturelle Verteidigungspolitik.
Die kulturökonomische Betrachtung kommt dennoch zu einem weniger schmeichelhaften Urteil. Die kulturelle Verteidigungspolitik verhinderte eine rational belastbare Findung der Covid 19-Politik. Im Hinblick auf die Vorbereitung auf künftige Pandemien folgt daraus, dass den kulturellen Grundlagen kollektiven Handelns in existenziellen Krisen wie einer Pandemie deutlich größere Aufmerksamkeit zuteilwerden muss.

Ernst Mohr (Prof. em. Ph.D.) lehrte an der Universität St. Gallen Ökonomie und promovierte an der London School of Economics. Seine Forschung führte ihn von der Ressourcen- und Umweltökonomie zur Kulturökonomie. Er publizierte u.a. zu den Triebkräften der Konsumgesellschaft.