Der südkoreanische Regisseur und Oscar-Preisträger Bong Joon-Ho lässt in seinem beeindruckenden Science-Fiction-Film »Snowpiercer« während einer von Menschen hervorgerufenen Eiszeit die Überlebenden der Menschheit in einem Zug 438.000 km um die Erde fahren. Der Film, der auf dem französischen Comic bzw. der Graphic Novel »Le Transperceneige« beruht, beschreibt eine post-apokalyptische Welt, in der ein Leben außerhalb des Zuges unmöglich geworden ist. Der Zug muss hierbei als Perpetuum mobile ständig in Bewegung bleiben, um die für die Passagiere lebenswichtigen Funktionen aufrechterhalten zu können. Die Gesellschaft im Zug ist hierarchisch in zwei Klassen organisiert, wobei die Eliteklasse an der Spitze des Zuges die Kontrolle über die Ressourcen hat (Nahrung, Wasser, ärztliche Versorgung etc.). Die Elite genießt privilegierte Lebensbedingungen (einschließlich Diskothek, Sauna, Pool, Sushi Restaurant), während die übrigen Menschen in den hinteren fensterlosen Waggons zusammengepfercht und in Armut um ihr Überleben kämpfen müssen. Die untere Klasse wird durch brutales Wachpersonal unterdrückt und gleichzeitig durch Strafen davon abgeschreckt, sich gegen die Zustände aufzulehnen. Die Nachricht lautet: »Kennt euren Platz und bleibt an eurem Platz«, oder wie es die erste Ministerin Mason formuliert: »Ich bin ein Hut, ihr seid ein Schuh. Ich gehöre auf den Kopf, ihr gehört an den Fuß.« Zugegeben, der Film über eine fiktive »Arche Noah« und den Untergang ist eine sehr zugespitzte Darstellung einer Bahnreise, in der die Menschheit im Zug der Welt sitzt.

Markus Gamper / Annett Kupfer

Klassismus

»Das Buch eröffnet theoretische wie empirische Einsichten in das Thema Klassismus und zeigt zugleich die Grenzen des bislang noch zu wenig beachteten Konzeptes auf. Das Buch betont, wie wichtig eine klassismuskritische Perspektive sein kann, um Phänomene der Klassenreproduktion, also des ›doing class‹, und der Stigmatisierung deutlich benennen zu können.«

Markus Gamper & Annett Kupfer

Die basale Unterteilung von Zugabteilen in eine 1. und eine 2. Klasse ist jedoch auch im realen Leben existent. Wer kennt nicht den Ausruf zum Einfahren der Züge an den Bahnhöfen? »Bitte Vorsicht auf Gleis 3. Zug nach Berlin fährt ein. Die Wagen der ersten Klasse befinden sich in den vorderen Abschnitten A und B. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt.« Der Ausruf weist uns, auch wenn es durch unsere Alltagsroutinen kaum mehr auffällt, unsere Position zu. Wir wissen, wo wir uns zu positionieren haben und welcher Platz uns zusteht. Während die erste Klasse für die Fahrgäste beispielsweise mehr Beinfreiheit, breite Gänge und einen Bordservice bereithält, ist sie in manchen Fällen zusätzlich durch das Bordrestaurant von der 2. Klasse getrennt. Es wird suggeriert, dass ein soziales »Oben« und ein soziales »Unten« existiert und dies oft auch physisch, wenn aufgrund einer Überbelegung Menschen, speziell in der 2. Klasse, in den Fluren stehen oder auf dem Boden sitzen müssen. Auch wenn in der ersten Klasse noch Plätze frei sind oder Stehplätze vorhanden wären, ist ein Einritt nicht erlaubt. Jede*r sollte den eigenen, vorbestimmten Platz kennen und auch einnehmen. Neben der reinen Sitzplatzzuteilung kommt es auch zu einer sozialen Hierarchisierung. Durch die Zugehörigkeit zur 1. Klasse grenzen Menschen sich ab und machen sich damit selbst ihrer Position bewusst, auch indem gleichzeitig andere Mitfahrende abgewertet werden, da diese eben nicht zur Eigengruppe gehören.


Das Auseinanderdriften der Klassen und die Stigmatisierung unterer Klassen.
Ein gesellschaftsanalytischer Zugang zum Begriff

Studien machen deutlich, dass diese Art von Klasseneinteilungen, wie sie in dem Zugbeispiel deutlich wurde, auf ähnliche Weise in Gesellschaften vorzufinden ist. Dabei beobachten wir seit Jahren ein verstärktes Auseinanderdriften der oberen und unteren Klassen sowie eine zunehmende Polarisierung zwischen extremer Reichtums und Vermögenskonzentration auf der einen Seite, und Armut und Ausgrenzung auf der anderen Seite. »Die sehr Armen auf der einen und Wohlhabenden oder Reichen auf der anderen Seite prägen die Gesamtbevölkerung so stark wie seit Jahrzehnten nicht mehr.« (Hartmann 2018, S. 122)

Andreas Reckwitz (2019, 2020) spricht diesbezüglich auch von einer kulturellen Klassengesellschaft, in der die nivellierte Mittelstandsgesellschaft – sofern sie je existiert hat – erodiert und sich Klassen, mit viel und wenig kulturellem und ökonomischem Kapital, immer stärker voneinander absetzen. Dabei verfestigen sich Armutslagen zugleich derart, dass sich von Armut betroffene Menschen, d. h. vor allem erwerbslose Menschen, Alleinerziehende, Familien mit drei und mehr Kindern, junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren, Einpersonenhaushalte, Menschen mit Migrationsgeschichte und Menschen im Alter, immer schwerer aus diesen Lagen befreien können. Diese Verfestigung der Armut, gemessen an der Armutsquote, »verweist auf einen Prozess zunehmender Blockierung von Lebenschancen und damit einer dauerhaften sozialen Ausgrenzung größerer Bevölkerungsteile vom gesellschaftlichen Wohlstand.« (Groh-Samberg und Hertel 2015, S. 262; Groh-Samberg et al. 2020) Unterdessen profitieren Wohlhabende am meisten von der zunehmenden sozialen Ungleichheit. Oxfam Deutschland e. V. (2023, S. 3) gehen weltweit von einer Explosion sozialer Ungleichheit aus, bei der die reichsten Menschen noch reicher werden. In den letzten zehn Jahren, so Oxfam (2023), haben Milliardär*innen ihr Vermögen verdoppelt. Der Vermögenszuwachs ist bei ihnen fast sechsmal so hoch wie bei den ärmsten 50 % zusammengenommen.


Eine erste Orientierung zum im Buch verwendeten Klassismusbegriff

Trotz der hier dargebotenen steigenden sozialen Ungleichheit und Verschlechterung der Lebenssituation der unteren Klassen hat sich der Begriff Klassismus noch nicht vollumfänglich durchsetzen können. Er wird dennoch in Diskursen innerhalb sozialer Bewegungen wie auch der Politik, der Öffentlichkeit und in den Medien immer wieder aufgegriffen. Die sich um ihn rankenden Debatten umfassen verschiedene thematische Schwerpunkte, unterliegen unterschiedlichen Regeln, finden häufig mit unterschiedlichen Diskursteilnehmer*innen statt und verfolgen differente Ziele (Kemper und Weinbach 2021). Auffallend ist, dass das Konzept des Klassismus selten in wissenschaftlichen Zusammenhängen Verwendung findet und kaum an wissenschaftliche Theorien rückgebunden ist. Zugleich, so unser Eindruck, wird häufig dann von »Klassismus« gesprochen, wenn aus einer antidiskriminatorischen Perspektive Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft und/oder sozialen Position diskriminiert und benachteiligt, negativ bewertet und verletzt, ausgegrenzt und ausgeschlossen werden. Eher selten werden im Kontext des Klassismusbegriffs aus einer sozialen Ungleichheits- und Gerechtigkeitsperspektive sozial-strukturelle Verhältnisse und deren Einflüsse auf Klassismusphänomene in den Blick genommen. Dabei ist Klassismus mehr als eine Ansammlung von Vorurteilen und Stereotypen, die durch das Entwickeln von Empathie und Respekt für Menschen in prekären Verhältnissen überwunden werden können. Klassismus ist eben auch greif bares Ergebnis sozialer und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit (Zrenchik und McDowell 2012, S. 102) und sowohl Grund für die ungleiche Verteilung an Gütern als auch Möglichkeit der Distinktion. Jene durch Macht und Herrschaft gerahmten Prozesse sind unseres Erachtens nicht ausreichend über Prozesse der Stigmatisierung erklärbar, sondern finden ihre Grundlage in der Klassenkonstruktion selbst.


Markus Gamper (PD Dr. phil.), geb. 1975, ist akademischer Rat am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften der Universität zu Köln. Er war Gastprofessor an der Universidad Autónoma de Aguascalientes (Mexiko). Seine Forschungsschwerpunkte sind Kultursoziologie, Netzwerkforschung, empirische Sozialforschung, (Trans-)Migrationsforschung und soziale Ungleichheit.

Annett Kupfer (Dr. phil.), geb. 1985, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften der Fakultät Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Dresden. Ihre Arbeits- und Forschungsthemen sind kritische (Trans-)Migrationsforschung, Intersektionalität, sozialpädagogische und psychosoziale Beratung sowie soziale Netzwerke und Empowerment.



Quellen

Hartmann, Michael (2018): Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie
gefährden. Frankfurt a. M./New York: Campus.

Groh-Samberg, Olaf; Büchler, Theresa; Gerlitz, Jean-Yves (2020): Soziale
Lagen in multidimensionaler Längsschnittbetrachtung. Bonn:
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Online verfügbar
unter: https://www.socium.uni-bremen.de/lib/download.php? file=
ef2403b1fb.pdf&filename=Soziale%20Lagen%20Endbericht %20
BMAS.pdf, zuletzt geprüft am 29.12.2022.

Groh-Samberg, Olaf; Hertel, Florian R. (2015): Ende der Aufstiegsgesellschaft?
In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Oben – Mitte
– Unten. Zur Vermessung der Gesellschaft. Bonn: bpb, S. 256–267.

Kemper, Andreas; Weinbach, Heike (2021): Klassismus. Eine Einführung.
Münster: Unrast.

Oxfam Deutschland e. V. (2023): Umsteuern für soziale Gerechtigkeit.
Online verfügbar unter: https://www.oxfam.de/system/files/docu
ments/oxfam_factsheet_davos-2023_umsteuern.pdf, zuletzt geprüft
am 31.01.2023.

Reckwitz, Andreas (2019): Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie
und Kultur in derSpätmoderne. Berlin: Suhrkamp.

Reckwitz, Andreas (2020): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum
Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp.

Zrenchik, Kyle; McDowell, Teresa (2012): Class and Classism in Family
Therapy Praxis. A Feminist, Neo-Marxist Approach. In: Journal
of Feminist Family Therapy 24 (2), S. 101–120. DOI: 10.1080/ 0895 28
33.2012.648118.