Zugegeben: Das Gefühl des Vorbehalts war ganz spontan, ohne weitere oder gar nähere Kenntnis des Sachverhalts. »Das konvivialistische Manifest«: Schon wieder ein Manifest? […]

Das kommunistische Manifest bestach ja einerseits durch seine analytisch brillante, im Grunde jeder Person verständliche Zeitdiagnose: Alles Ständische und Stehende verdampft, der Arbeiter als bloßes Zubehör der Maschine, die Bourgeoisie als ihr eigener Totengräber. Marx und Engels boten auf engstem Raum eine veritable Strukturanalyse der modernen Industriegesellschaft. Und ihr Text zeichnete sich durch eine aus dieser Strukturanalyse logisch folgende, in der Klarheit ihrer Adressierung und Orientierung kaum zu überbietende politische Perspektive aus: Proletarier aller Länder, vereinigt Euch! Was auch immer man, zumal im Lichte der nachfolgenden anderthalb Jahrhunderte partei- und staatssozialistischer Struktur- und Ereignisgeschichte, von diesem Aufruf heute halten mag: Wenn schon Manifest, dann schon so, also richtig.

Das Buch

Frank Adloff / Volker M. Heins

Konvivialismus. Eine Debatte

Der Nachfolgeband des »Konvivialistischen Manifests« ↗ diskutiert dessen Stärken und Schwächen und sucht nach Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung einer konvivialen Gesellschaft in Politik, Kultur, Zivilgesellschaft und Wirtschaft des deutschsprachigen Raums.

Man muss es so deutlich sagen: Sowohl gegenüber der gesellschaftlichen Strukturanalyse wie auch hinsichtlich der politischen Mobilisierungsqualität des Kommunistischen verblasst das konvivialistische Manifest doch ganz erheblich. Ja, es verfehlt dessen Anliegen und Impetus fast ums Ganze. Das liegt nicht nur an der durchweg etwas opaken und wolkigen Sprache – jener Sprache gegenwärtiger französischer Sozialwissenschaft, deren jüngere Beiträge im Allgemeinen und auf Anhieb so ungemein anregend sind, im Detail und bei genauerer Lektüre jedoch auf so eigentümliche Weise im Unbestimmten, Ungefähren bleiben. Und nicht zuletzt deshalb vielleicht auch so ungefährlich.

Doch nicht nur sprachlich, auch inhaltlich ist die Strukturanalyse des konvivialistischen Manifests in ihrem Kern eigentümlich vage: Irgendwie sind Menschheit und Sozialität bedroht, und auf irgendeine Weise hat das mit den herrschenden ökonomischen Vorstellungen und der Kultur bzw. Unkultur des Wachstums zu tun. Als nicht weniger unterbestimmt erweist sich dann aber auch der gesellschaftspolitische Gegenentwurf: Es geht um neue Formen des gütlichen Zusammenlebens, die interindividuelle Kooperation trotz sozialer Rivalität erlauben und durch eine von wem auch immer getragene moralische Fortschrittsbewegung herbeigeführt werden sollen. Nur eines scheint klar: Den »gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung« à la Marx/Engels streben Caillé et al. nicht an. Der Konvivialismus soll friedlich-friedvoll über uns kommen.

Womit zugleich auch der Untertitel des Manifests angesprochen wäre. Auch dieser lässt den mit Umstürzen der Gesellschaftsordnung, zumal den gewaltfreien unter ihnen, grundsätzlich sympathisierenden Leser ebenfalls spontan stutzen. »Für eine neue Kunst des Zusammenlebens«: Das klingt ästhetisierend und irgendwie bohémien. Und ist zwar wohl nicht so gemeint, aber vermutlich doch im übertragenen Sinne eines kollektiv-individuellen Anforderungsprofils an die vereinten Zusammenlebenskünstler*innen aller Länder: Empört Euch über die gegenwärtige Lebensweise und verhaltet Euch gemeinsam anders. Weniger gesellschaftliche Strukturumbrüche sind hier gefragt als vielmehr veränderte Formen der Lebensführung – dabei ist das eine nicht ohne das andere zu denken, sind die Formen des sozialen Zusammenlebens doch auf das Engste mit den Funktionen gesellschaftlicher Strukturbildungen verknüpft.

[…]

Wer als »Kunst des Zusammenlebens« einen Vergesellschaftungsmodus positiver sozialer Relationierung imaginiert, der »die Zusammenarbeit würdigt und es ermöglicht, einander zu widersprechen, ohne einander niederzumetzeln, und gleichzeitig für einander und für die Natur Sorge zu tragen« (S. 47), der*die muss auch sagen, was realiter der Fall ist, was einem solchen »con-vivere« (ebd.) strukturell entgegensteht: Nämlich das »con-tendere«, das agonale miteinander Wetteifern der durch die systemischen Zwänge kapitalistischer Akkumulation in eine individuell unhintergehbare Struktur von Wettkämpfen und Bewährungsproben gesetzten Marktakteur*innen. Eine Struktur, die systematisch Gewinner*innen und Verlierer*innen erzeugt – übrigens in der Regel ganz ohne das unangenehme Beiwerk physischen Niedermetzelns. Die »offene Gesellschaft« der Marktökonomie exkludiert viel reibungsloser, lautloser, subtiler. Und schafft es dennoch recht effektiv, soziale Existenzen zu ruinieren und die sogenannten »natürlichen« Grundlagen ihrer Produktionsweise zu zerstören.

Politökonomische Fragen, die sich beim Lesen des konvivialistischen Manifests geradezu aufdrängen, lässt dieses leider durchweg unbeantwortet – oder mehr noch, sie bleiben ungestellt. Wo kommt denn das »Streben nach unendlichem ökonomischem Wachstum« (S. 51), das als das Kardinalproblem der Gegenwartsgesellschaft ausgemacht wird, wohl her? Ist es ein Charakterzug des modernen Menschen? Eine psych-materiale Deformation der Wohlstandsgesellschaft? Oder ein systemisches Problem der kapitalistischen Institutionenordnung, die sich, wie Max Weber wusste, die Subjekte schafft, derer sie bedarf? Wie kommt »das Postulat des absoluten Vorrangs der ökonomischen Probleme vor allen anderen« (S. 52) in die soziale Welt? Durch Zufall (wohl kaum), ideologische Verblendung (letztlich nur bedingt), demokratische Wahlen (zumindest mittelbar leider Gottes schon), die Funktionsnotwendigkeit der immer wieder erneuten Produktion und Realisierung von Mehrwert (so jedenfalls die Annahme des »anderen« Manifests)? Warum also die »Unterordnung aller menschlichen Tätigkeiten unter eine kommerzielle oder quasikommerzielle Norm« (S.53)? Man wird ja wohl noch fragen dürfen.

[…]

Was das konvivialistische Manifest als Zukunftsvision zeichnet, ist das ebenso harmonistische wie unrealistische, weil die strukturellen Widersprüche und funktionalen Antagonismen unterschiedlicher gesellschaftlicher Steuerungsmodi ausblendende, Idealbild einer mixed economy of welfare: Es geht den Manifestierenden um »das rechte Gleichgewicht zwischen privaten, gemeinsamen, kollektiven und öffentlichen Gütern und Interessen« (S. 66). Nun gut: Wer würde nicht in der besten aller Welten leben wollen, in der man sich von allen Dingen, die ja für gewöhnlich immer zwei Seiten haben, immer nur die mit der Schokolade aussuchen könnte – ohne sich die jeweils dunkle, bittere Seite der jeweiligen Steuerungsmacht mit einzukaufen.

[…]

Zugegeben: All dies klingt nach keinem guten Haar, das an dem konvivialistischen Manifest zu lassen wäre. Ganz so ist es nun allerdings auch nicht. Gewiss wird man den Autor*innen einigen gesellschaftspolitischen Kredit gewähren wollen, zumal sie einleitend auch selbst einräumen, dass man sich hier auf »den größten gemeinsamen Nenner des alternativen Denkens« (S. 36) zu einigen versucht habe – auf eine Minimaldoktrin, »die von allen geteilt werden kann« (S. 50). Die »Verheißungen der Gegenwart Wirklichkeit werden zu sehen« (S. 40) ist, nicht nur wegen der manifesten Anklänge an die gesellschaftswissenschaftliche Programmatik der Kritischen Theorie, aller Ehren wert. Und das Ziel, »einen neuen, radikalisierten und erweiterten Humanismus zu erfinden« (S. 58), klingt tatsächlich nach einer die kapitalistische Gesellschaftsformation überwindenden Utopie, nach der Organisationsform einer freien zivilgesellschaftlichen Assoziation.

Doch wie soll es dazu kommen? Durch den guten Willen und die bessere Einsicht aller? Das konvivialistische Manifest ist durchgängig im Modus des »Muss« gehalten: Es geht um all das, was anstünde und passieren müsste. Aber wie soll der Schritt von der normativen Präskription zur politischen Aktion vollzogen werden? Und wer soll aus dem Sollen das Sein hervorbringen? Liest man das Manifest, dann findet sich darin nicht viel mehr als ein Plädoyer für eine Politik der Gefühle: Es geht um die ehrliche »Entrüstung« der einen und die gebotene »Scham« der anderen, »Affekte und Leidenschaften« seien zu mobilisieren (vgl. S. 72) – doch die Träger*innen und Adressat*innen dieser Gefühlsbewegung bleiben im Dunkeln. Von wem soll dann aber »auf die bestehenden politischen Spiele« (S. 73) Einfluss genommen werden? Und wie soll dieser politische Einfluss, so das Manifest an einer Stelle gleichsam über sich selbst hinauswachsend, konkret sogar »radikal« (ebd.) gewendet werden?

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Es hilft nichts, diesen Sachverhalt zu ignorieren oder sich schön zu reden: Wer eine neue Form des Zusammenlebens in der Weltgesellschaft anstrebt, der wird für eine massive Umverteilung sozialer Lebenschancen eintreten müssen, für eine nationale wie transnationale Option für die Ärmeren. Damit ist aber auch klar: Diese neue Form des Zusammenlebens wird ohne schwere, ja schwerste Verteilungskonflikte nicht zu haben sein.

Es scheint nicht so, als seien die Denker*innen des konvivialistischen Manifests auf solche Verhältnisse eingestellt – oder als wollten sie die Welt um sie herum darauf einstellen. Im Gegenteil, ihr politischer Verfahrensvorschlag für einen gesellschaftlichen Weg in die Konvivialität ist von geradezu entwaffnender Harmlosigkeit. Und er ist zugleich, auch das muss man wohl sagen, ein Ausdruck von intellektueller Selbstüberschätzung: Eben noch wird ein »neuer Progressivismus« (S. 73) in Aussicht gestellt, der »frei von jedem Ökonomismus und von jedem Szientismus« (ebd.) zu sein habe – um schon im nächsten Satz das operative Heil in einem Parlament der wohlmeinenden Gebildeten zu suchen, in einer »Weltversammlung …, in der sich Vertreter der organisierten Weltzivilgesellschaft, der Philosophie, der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie der verschiedenen ethischen, spirituellen und religiösen Strömungen zusammenfinden, die sich in den Prinzipien des Konvivialismus wiedererkennen« (S. 74).

[…]

Ich kann mir nicht helfen: Da ist mir dann doch das schlicht-direkte marx/engelssche »Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!« näher. Und es scheint mir sogar auch, selbst unter den gegebenen Bedingungen fortgeschrittener sozialstruktureller Differenzierung, realitätstüchtiger zu sein. Einer neuen Ökonomie des Zusammenlebens – und einer eben solchen bedürfte es – wird der alte, als hoffnungslos antiquiert geltende Kampfspruch des Kommunistischen Manifests jedenfalls eher gerecht als die Moralappelle des konvivialistischen. Marx und Engels deuteten die Geschichte ihrer Gesellschaft als eine der »Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind«. Damals wurden immerhin noch Ross und Reiter genannt – und es wurde nicht suggeriert, dass man auf eine andere Welt, auf neue Formen des Zusammenlebens, sich ohne schwerste soziale Kämpfe würde einigen können.

So viel Realitätssinn täte auch dem Manifest der Konvivialist*innen gut – und solcherart Politisierung ihrem gesellschaftlichen Anliegen.


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