War der Coronavirus-Lockdown notwendig?
Versuch einer wissenschaftlichen Antwort
Dirk Richter analysiert die Pandemie-Entwicklung im Frühjahr 2020 sowie deren Hintergründe und kommt zu dem Schluss: Die Maßnahmen wären nicht zwingend notwendig gewesen, aber länger zurückliegende Fehleinschätzungen und aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen haben sie unvermeidlich gemacht.
Warum ein Buch über den Lockdown?
Die Staaten des globalen Nordens haben die Herausforderung der Pandemie fast ausnahmslos mit dem Lockdown bekämpft. Noch vor wenigen Jahrzehnten, während der 1960er-Jahre, hat man auf Pandemien gar nicht reagiert, sondern die Infektionswellen über sich ergehen und viele Menschen sterben lassen. Was ist in der Zwischenzeit passiert und welche Faktoren haben im Frühjahr 2020 alles auf den Kopf gestellt, was bisher von Politik und Gesundheitsadministration zu erwarten war?
Hierzu habe ich das Geschehen und den Umgang mit der Pandemie aus epidemiologischer, psychologischer und soziologischer Perspektive rekonstruiert. Ich wollte verstehen, was es mit dem Lockdown auf sich hatte. Als Wissenschaftler, der seit 25 Jahren an den Schnittstellen von Medizin, Psychologie und Soziologie arbeitet, meinte ich, nicht mehr von solchen Ereignissen überrascht werden zu können. Das Gegenteil war aber der Fall. Ich hatte sowohl die Infektion als auch die staatliche und gesellschaftliche Reaktion darauf vollkommen unterschätzt.
Insofern war das Schreiben auch ein Umgang mit der Kränkung, den ganzen Sachverhalt falsch eingeschätzt zu haben. Damit war ich aber nicht allein. Während der Recherchen stieß ich auf zahlreiche historische und aktuelle Fehleinschätzungen über Epidemien. Selbst Hans Rosling, der durch das Buch ›Factfulness‹ bekannt gewordene schwedische Arzt und Statistiker, hatte die Weltgesundheitsorganisation während des letzten großen Ebola-Ausbruchs in Westafrika dahingehen beraten, die Epidemie nicht so ernst zu nehmen und keine Ressourcen abzuziehen, die für andere Krankheiten gebraucht werden könnten – ein fataler Irrtum, der viele Menschenleben gekostet hat, wie Rosling später einräumte.
Wir verstehen nicht, was es mit Epidemien auf sich hat
Offenbar haben wir große Mühe, das – wenn man so sagen darf – Konzept der Epidemie zu verstehen. Es ist nicht nur das exponentielle Wachstum, das wir psychologisch nicht nachvollziehen können, wir haben die zentrale Lektion der Unvorhersehbarkeit der Epidemie nicht gelernt, wie gerade zu Beginn der zweiten Infektionswelle in vielen Ländern deutlich wurde. Zu lange haben wir alle uns während des Sommers in Sicherheit gewogen und geglaubt, wir wären mit einem blauen Auge davon gekommen im ersten Halbjahr 2020. Dabei hätten wir aus epidemiologischer Sicht genau in der Zeit eben nicht verreisen und andere Menschen treffen sollen, wenn wir die zweite Welle hätten verhindern wollen.
Dies aber wäre weder individuell nachvollziehbar noch gesellschaftlich akzeptabel gewesen. Während der zweiten Welle machten sich nun die gleichen Entwicklungen bemerkbar wie im Frühjahr: Eine epidemiologische Dynamik traf auf psychologische Befindlichkeiten und auf gesellschaftliche Verhaltensmuster. Wissenschaft, Medien, Politik und Wirtschaft reagierten zu großen Teilen so, wie zu erwarten war. Dies zeigte sich nicht zuletzt in der Politisierung der Pandemiebekämpfung in vielen Staaten.
Wir sollten über Taiwan diskutieren, nicht über Schweden
Interessanterweise ist die wirklich erfolgreiche Alternative zum Lockdown eben nicht das ›Schwedische Modell‹, sondern das ›Südostasiatische Modell‹, wie es in Südkorea oder Taiwan implementiert wurde. Dort wurden nur wenige Todesfälle gezählt, und doch war kein Lockdown eingeführt worden. Dieses Modell, das nur durch eine effektive Pandemieplanung umgesetzt werden konnte, um beispielsweise die Kontaktnachverfolgung ausreichend wirken zu lassen, wird jedoch nicht einmal ansatzweise von der Lockdown-Skepsis diskutiert. Rechtspopulistische und rechtskonservative Positionen favorisieren mit dem ›Schwedischen Modell‹ absurderweise einen gesellschaftlichen Umgang mit Problemen, der ein großes Vertrauen in Politik und Behörden voraussetzt. Genau dieses Vertrauen unterminieren diese Positionen jedoch seit Jahren. Insofern wäre das ›Schwedische Modell‹ aller Voraussicht nach gar nicht auf andere Länder zu übertragen gewesen.
Warum aber war außerhalb Südostasiens kein Staat wirklich auf die Pandemie vorbereitet? Dies hat etwas mit den länger nicht vorhandenen Erfahrungen bezüglich großer Infektionsausbrüche zu tun, aber wesentlich auch mit den genannten konzeptionellen Missverständnissen. Entgegen vieler Szenarien und Planspiele in zahlreichen Staaten hat es kaum jemand für wirklich möglich gehalten, dass eine Pandemie dieses Ausmaßes in Europa oder Nordamerika geschehen könnte.
Der Lockdown war keine wirklich rationale Entscheidung aus wissenschaftlichen Kriterien heraus, sondern eine hilflose Reaktion, die sich gewissermaßen als ›Herdenverhalten‹ in einem Staat nach dem anderen abspielte, wie empirische Studien gezeigt haben, die ich in meinem Buch zitiere. Insofern wäre der Lockdown eben nicht zwingend notwendig gewesen, wenn man eine adäquate Pandemieplanung umgesetzt hätte. Da aber tausende Todesfälle und ein vollkommen überlastetes Gesundheitswesen zu verhindern waren, war diese Massnahme letztlich unvermeidlich.