Wer eine literarische Beschreibung dessen sucht, was Konvivialität sein könnte, findet sie in Stefan Zweigs Schilderungen der »individuellen Freiheit« und der »wunderbar weisen Unbekümmertheit« des Alltagslebens in Paris vor dem Ersten Weltkrieg: »Es gab keinen Zwang, man konnte sprechen, denken, lachen, schimpfen, wie man wollte, jeder lebte, wie es ihm gefiel, gesellig oder allein, verschwenderisch oder sparsam, luxuriös oder bohèmehaft, es war für jede Sonderheit Raum und gesorgt für alle Möglichkeiten. […] Paris kannte nur ein Nebeneinander der Gegensätze, kein Oben und Unten« (Zweig 1970: 153, 155).
Das Buch
Frank Adloff / Volker M. Heins
Konvivialismus. Eine Debatte ↗
Der Nachfolgeband des »Konvivialistischen Manifests« ↗ diskutiert dessen Stärken und Schwächen und sucht nach Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung einer konvivialen Gesellschaft in Politik, Kultur, Zivilgesellschaft und Wirtschaft des deutschsprachigen Raums.
Das Leben mag sich geändert haben, aber das Wort convivialité ist heute im Französischen durchaus gebräuchlich und hat sich auch im Englischen als gängiges Fremdwort sowie neuerdings auch als Fachbegriff in Diskussionen über das Zusammenleben in Einwanderungsgesellschaften etabliert. Die Wortschöpfung geht zurück auf den Politiker und Gastronom Jean Anthelme Brillat-Savarin und sein Buch »Physiologie du goût« (1825). Brillat-Savarin, der heute als ein früher Ernährungsexperte und eindringlicher Warner vor den Gefahren der Fettleibigkeit gilt, verstand unter Konvivialität die Situation, die sich oft bei Tisch ergibt, wenn unterschiedliche Leute über einer guten langen Mahlzeit einander näher kommen und in angeregten Gesprächen die Zeit verfliegt.
[…]
Das konvivialistische Manifest einer Gruppe von französischsprachigen Intellektuellen um den Soziologen Alain Caillé geht über die bisherigen Verwendungsweisen hinaus, indem es aus der Konvivialität einen »Ismus« macht. Aus einem Attribut sozialer Beziehungen, das am Beispiel munterer Tischgesellschaften – einer säkularisierten Version des Urbilds vom christlichen Abendmahl – gewonnen wurde, wird etwas Neues: eine moralische Überzeugung, eine transformatorische »Kunst des Zusammenlebens« und eine »Minimaldoktrin« (S. 47), die in Konkurrenz tritt zu den großen politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts.
Während der Begriff der Konvivialität eine Praxis des Zusammenlebens bezeichnet, die offenkundig wertgeschätzt wird, macht der »Ismus« deutlich, dass es auf einer theoretischen Ebene um die Systematisierung einer sozial- und politiktheoretischen Perspektive gehen muss (vgl. auch die ähnlich gelagerte Differenz zwischen den Begriffen »liberal« und »Liberalismus«). Die Nähe zum Begriff der Zivilgesellschaft liegt dabei auf der Hand: Dieser beschreibt ja nicht nur eine Praxis der freiwilligen Assoziation, sondern zeichnet diese auch mit dem Attribut der Zivilität normativ aus und verweist darüber hinaus auf ein utopisches Projekt der Selbstregierung (vgl. Adloff 2005). Der Fokus ist somit ein doppelter: Wir können uns mit dem Konvivialismus als sozialwissenschaftlicher oder politischer Idee einerseits und mit der Konvivialität als gelebter Praxis andererseits befassen, wobei sich die wichtige Frage stellt, wie beide Ebenen miteinander zusammenhängen.
[…]
Damit steht nicht nur die Frage nach dem Praktischwerden von Wissenschaft im Raum, sondern auch die sozial- und politiktheoretische Reflexion auf Bedingungen und Möglichkeiten von Konvivialität, und somit auch die Frage nach dem Verhältnis von empirischen Sozialwissenschaften und normativen Debatten (die klassische Problemlage der kritischen Theorie wird hier nicht zufällig implizit aufgerufen).
Das Ziel der Konvivialist*innen ist eine Gesellschaft, in der Individuen, Gruppen und Gemeinwesen auf neue Art und Weise miteinander verbunden sind, einander in ihrer Unterschiedlichkeit achten und dabei zum Wohle aller kooperieren. Konvivialität ist mehr als das, was Hobbes als »complaisance« bezeichnet hat, das heißt die Bereitschaft zum mechanischen »Entgegenkommen« und zur wechselseigen Anpassung aneinander (Hobbes 1996: 127). Vielmehr glauben die Konvivialisten an moralischen Fortschritt, verstanden als umfassende, nicht nur quantitative Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse bei gleichzeitiger Verfeinerung der Umgangsformen. Moralischer Fortschritt ist möglich, weil sich die Einzelnen im Medium von Kooperation und wechselseitiger Sympathie gemeinsam entwickeln und außerhalb eines solchen Zusammenhangs gar nicht gedacht werden könnten. Das Manifest spricht in diesem Zusammenhang von der Existenz einer geteilten Form des Anstands (»common decency«, S. 66). Dieser Ausdruck George Orwells, den der politische Philosoph Jean-Claude Michéa (2014 [2007]) erneut in die Debatte eingeführt hat, verweist auf die Vorstellung, dass Menschen nicht primär rationale Egoist*innen sind, sondern eine psychologische und kulturelle Disposition zu Großzügigkeit und Solidarität zeigen, auf der die normativen Strukturen von Politik und Gesellschaft gründen können.
Während diese Ideen alles andere als Aufsehen erregend oder skandalös sind, dürften zwei Faktoren die Debatte befeuern.
Erstens der zusammengesetzte und vieldeutige Charakter des Manifests, dem man ansieht, dass viele Köch*innen ihre geistigen Zutaten beigesteuert haben. […] Das Manifest ist, so kann man es zugespitzt formulieren, politisch polymorph.
Dafür spricht auch, dass man aus dem Konvivialismus einen versteckten Imperativ herauslesen könnte, sich nicht von der Gesellschaft abzuwenden oder sich aus ihr zurückzuziehen. […] Es bezweifelt nicht, dass Menschen Gemeinschaftsbezüge brauchen und diese auch immer wieder herstellen, doch fragt es nicht primär danach, was im Innern von Gemeinschaften passiert (oder passieren sollte), sondern wie unterschiedliche Gemeinschaften wechselseitig zueinander stehen können oder sollen. Also nicht Verhältnisse von Vertrautheit, sondern der Umgang unter Fremden wird zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht: Wie zusammenleben, ohne sich gegenseitig zu schaden? […]
Zweitens versuchen die Initiator*innen des Manifests, die Motive von verschiedenen Protestbewegungen und eine Vielzahl sozialer Trends in sich aufzunehmen und auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Daraus ergeben sich wichtige Fragen: Wer sind die sozialen Träger des Konvivialismus, welche Erfahrungen motivieren sie, was sind die politischen und gesellschaftlichen Ziele, die in der »Minimaldoktrin« niedergelegt sind, und welche Hindernisse stehen einer neuen Kunst des Zusammenlebens im Weg? In diesem Zusammenhang ist auch zu debattieren, welche Funktion der Begriff des Konvivialismus selbst übernehmen könnte. […] Konvivialismus als Konzept will einen begrifflichen Rahmen all denjenigen anbieten, die mit der Idee des guten Lebens mehr und anderes verbinden als die Früchte von Siegen im Status- und Konkurrenzkampf.
[…]
Das Manifest steckt voller Hinweise auf soziale Bewegungen und kulturelle Impulse unseres noch jungen Jahrhunderts. Die Bewegungen, auf die angespielt wird, streiten für die Regulierung des Finanzkapitalismus, für neue Menschenrechte des digitalen Zeitalters, für nachhaltige Landwirtschaft, religiösen Dialog, neue Ansätze der globalen Armutsbekämpfung und die Reterritorialisierung politischer Entscheidungsvollmachten. Ferner knüpft der Konvivialismus an starke Indizien an, die in den fortgeschrittenen Gesellschaften der Gegenwart auf einen moralischen Fortschritt in der alltäglichen Organisation des Zusammenlebens hindeuten. Diese Indizien zeigen sich in einer Reihe von sozialen Beziehungen: zwischen Mehrheitsgesellschaften und Minderheiten, zwischen den Geschlechtern, zwischen Eltern und Kindern und sogar zwischen Menschen und Tieren.
[…]
Konvivialismus als »neue Kunst des Zusammenlebens« will sich nicht auf einzelne Reformen in Teilbereichen der Gesellschaft beschränken – es geht um eine veränderte Gesamtperspektive, die in jedem gesellschaftlichen Bereich Geltung beanspruchen könnte. Auf die Frage, wo man denn mit Konvivialität anfangen solle, würden die Konvivialist*innen typischerweise antworten: Jeder und jede kann sich an jedem gesellschaftlichen Ort für mehr Konvivialität einsetzen.
Literatur
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