In den vergangenen Monaten wurde die kritische Situation an den europäischen Außengrenzen von Meldungen zu Inzidenzwerten, Impfstrategien und Öffnungsdebatten überschattet. Auch der Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung und der Weltflüchtlingstag konnten im letzten Jahr nicht den Raum einnehmen, den sie verdient hätten. Während sich in Nordeuropa die Flaniermeilen wieder mit Leben füllen, hat sich die prekäre Situation Schutz- und Asylsuchender durch die Pandemie vielerorts stark zugespitzt.
Dass der 2014 eingeführte bundesweite Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung mit dem Weltflüchtlingstag zusammenfällt, ist kein Zufall. Der 20. Juni vereint zwei Perspektiven, die erst gemeinsam ein Bewusstsein für zentrale politische und gesellschaftliche Themen ermöglichen: den Blick in die eigene Vergangenheit und auf die Lebensrealität von Geflüchteten und Migrant*innen heute. Unsere Autor*innen vertiefen diesen Ansatz und erweitern ihn um eine dritte Dimension: die Frage nach zukunftsfähigen Konzepten für eine aufgeklärte transkulturelle Gesellschaft.
Sonja Buckel ↗ / Laura Graf ↗ / Judith Kopp ↗ / Neva Löw ↗ / Maximilian Pichl ↗ (Hg.)
Kämpfe um Migrationspolitik seit 2015 ↗
Zur Transformation des europäischen Migrationsregimes
Die migrantische Mobilität im Sommer 2015 hat die europäische Flüchtlingspolitik auf den Kopf gestellt. Rechte und konservative Kräfte wurden bestärkt, aber auch die Solidaritätserfahrungen hallen immer noch nach. Wie steht es nun um die Kämpfe der Migration? Welche Kräfte haben sich durchgesetzt und welche Verschiebungen haben sich diskursiv und politisch ergeben? Und was bedeutet dies für emanzipatorische, pro-migrantische Perspektiven? Die Forschungsgruppe »Beyond Summer 15« diskutiert diese Transformation des Migrationsregimes und zeigt u.a. in den Bereichen Recht, öffentliche Debatten, zivilgesellschaftliche Interventionen und Arbeitsmarkt auf, wie um Migration gerungen wird.
Flucht als Überlebensstrategie ↗
Ideen für eine zukünftige Fluchtforschung
Die öffentlichen Bilder und Diskurse über die jüngsten Fluchtmigrationsbewegungen lösen im Kontext des europäischen Grenzregimes eine Art moralische Panik aus. Im Gegensatz dazu plädiert Frauke Schacht für eine Denkhaltung, aus der Menschen als handelnde Personen, als Expert*innen ihres eigenen Lebens in Erscheinung treten: Eine Haltung, die nicht nur die hegemoniale Normalität dekonstruiert, sondern neue Perspektiven auf marginalisierte Geschichten, alltägliche Erfahrungen und kreative (Über-)Lebensstrategien eröffnet. Damit liefert sie eine konzeptionelle Idee für eine zukünftige Forschung zum Thema Flucht, die die Perspektive der Flüchtenden ins Zentrum stellt.
Ihr Buch in einem Satz?
›Flüchtling-Sein ist kein Beruf – ich habe auch noch andere Dinge zu tun.‹ (Rasin 2019 – Interviewpartner)
Frauke Schacht im Interview
Heimat und Migration ↗
Ein transdisziplinärer Ansatz anhand biographischer Interviews mit geflüchteten Menschen in Deutschland
»Heimat« ist nicht nur in seiner wissenschaftlichen Nutzung im Kontext von Flucht und Migration ein zentraler Begriff. Svenja Kück zeigt auf, in welchem Spannungsfeld in Deutschland lebende geflüchtete Personen Heimat immer neu aushandeln, bewahren und anpassen. Auf Grundlage empirischer Daten – der Zugang zum Forschungsfeld und die Erhebung biographischer Interviews gelang in einem innovativen transdisziplinären Reallaborsetting – fußt die Rekonzeptionalisierung eines offenen, kontextabhängigen Heimatbegriffs. Für den humangeographischen Ansatz und die Verknüpfung der Themenkomplexe Heimat und Migration stellt diese Studie eine Pionierleistung dar.
Insbesondere im Kontext von (Flucht-)Migration gewinnt Heimat eine besondere Brisanz: Personen mit Fluchterfahrung werden als heimatlos dargestellt, als Fremde oder Bedrohung angenommener Stabilität. Sie selbst kommen dabei kaum zu Wort.
Svenja Kück im Interview
Christel Baltes-Löhr ↗ / Beate Petra Kory ↗ / Gabriela Sandor ↗ (Hg.)
Auswanderung und Identität ↗
Erfahrungen von Exil, Flucht und Migration in der deutschsprachigen Literatur
Migration und Exil in der deutschsprachigen Literatur sind Themen dieses Bandes. Vor dem Hintergrund der theoretischen Figur des Kontinuums fokussieren die Beiträge insbesondere Aspekte der Erinnerung und Identität. Neben den Romanen Gehen, ging, gegangen von Jenny Erpenbeck, Hiob von Joseph Roth und Joseph und seine Brüder von Thomas Mann als bedeutende Beispiele für Exilliteratur wird der Zusammenhang zwischen Erinnerungs- und Identitätsverlust anhand der Texte von W.G. Sebald nachgezeichnet. Auch zeitgenössische Autor_innen mit Migrationserfahrung wie Sasa Stanisic, Abbas Khider und Osman Engin werden vorgestellt.
Neuerscheinung im Juni:
Europa als Grenze ↗
Eine Ethnographie der Grenzschutz-Agentur Frontex
Mit der Europäischen Grenz- und Küstenwachagentur Frontex hat die Europäische Union erstmalig eine uniformierte und bewaffnete Polizeieinheit geschaffen. Bernd Kasparek legt eine detaillierte Analyse der Entstehung und Entwicklung der Agentur vor. Durch eine Genealogie der europäischen Grenze und eine ethnographische Rekonstruktion der Krise Schengens untersucht er das lange Projekt der Europäisierung des Grenzschutzes. Im Zentrum steht die Analyse sich wandelnder Rationalitäten, die sich in politischen und technischen Programmatiken niederschlagen. Dabei wird deutlich, dass das Regieren der Grenze und der Migration gleichzeitig die Frage nach dem Regieren Europas bedeutet.