Pragmatisch diskutieren mit dem ›Gewohnheitstier‹ Mensch

1994 von der Präsidentin der ›Vegan Society‹ Louise Wallis ins Leben gerufen, lenkt der Weltvegantag ↗ am 1. November das Augenmerk darauf, dass ein Konsumverhalten ohne die Verursachung von Tierleid praktizierbar und wichtig ist. Zahlreiche Veganer*innen nutzen den Weltvegantag, um in einen Dialog mit Omnivoren und Vegetarier*innen zu treten und dafür einzustehen, dass jede einzelne Person ihren Beitrag zu Tier-, Klima- und Umweltschutz leisten kann.

Der Weg zur veganen Welt – was wie eine Utopie klingt, gießt Tobias Leenaert in seinem im Januar 2022 erscheinenden Band in einen pragmatischen Leitfaden, der auf unaufgeregte und konstruktive Art dazu ermutigt, die Vorteile einer pflanzlichen Ernährung jenen vor Augen zu führen, die einer fleisch- und tierproduktfreien Lebensweise kritisch gegenüberstehen.

In dem folgenden Auszug aus »Der Weg zur veganen Welt« erläutert Tobias Leenaert, Autor, Berater sowie Mitgründer u.a. von EVA (Ethical Vegetarian Alternative) und ProVeg International, die Idee hinter der pragmatischen Herangehensweise, mit der Sympathisant*innen für eine vegane Lebensführung gewonnen werden können, und verdeutlicht zugleich einen zentralen Konflikt, der sich innerhalb der sozialen Bewegung zwischen zwei Extrempolen abspielt und aktivistisches Engagement maßgeblich erschwert.


Zeit für Pragmatismus

Es sollte inzwischen klar sein, dass die Gesellschaft vom Fleisch zu entwöhnen eine gewaltige Aufgabe ist. Als Individuen und als Gesell­schaft haben wir ein unglaublich starkes Interesse an und Abhängig­keit von der Verwendung von Tieren. Diese Wahrheit – in Kombination mit den einzigartigen Herausforderungen der Tierrechts- und Vegan­bewegung – macht einen Wandel langsam und schwierig. Obwohl wir unsere Organisationen ausbauen und professionalisieren, machen Vegetarier*innen und Veganer*innen selbst in den in dieser Hinsicht »fortgeschrittensten« Ländern nicht mehr als ein paar Prozent der er­wachsenen Bevölkerung aus. Auch wenn wir das anders wahrnehmen mögen, ist die Zahl der Veganer*innen in den letzten Jahrzehnten nicht spektakulär angestiegen (VRG).

Hal Herzogs Einschätzung ist keine, über die wir uns freuen können: »Ungeachtet dessen, was man manch­mal hört, hat die Tierrechtsbewegung in den letzten dreißig Jahren unseren Wunsch, andere Tierarten zu verzehren, nicht besonders be­einträchtigt.« Veganville scheint für die meisten Menschen un­vorstellbar weit weg zu sein, auf einem Berg, der zu hoch ist, um ihn zu besteigen. Währenddessen versuchen unsere Gegner*innen zu ver­hindern, dass Menschen den Aufstieg überhaupt antreten, indem sie buchstäblich Milliarden von Euro in Werbung investieren, damit die Menschen auch weiterhin süchtig nach Fleisch bleiben.

 

 

Cover Der weg zur veganen Welt

 

Tobias Leenaert

Der Weg zur veganen Welt
Ein pragmatischer Leitfaden

Wie können wir eine vegane Welt erschaffen? Das Buch verfolgt einen pragmatischen und breitenwirksamen Ansatz, der zeigt, wie wir alle dazu beitragen können, dieses Ziel realistisch zu erreichen: Die Überwindung unserer umfassenden Abhängigkeit von der Tiernutzung und dem massiven Leid, das sie produziert. Tobias Leenaert verlässt die ausgetretenen Pfade des Engagements für Tierrechte und wirft einen neuen, undogmatischen Blick auf Strategien, Ziele und die Kommunikation der veganen Bewegung. Er liefert zahlreiche wertvolle Ideen und Erkenntnisse für angehende Tierschützer*innen und erfahrene Aktivist*innen, für einschlägige Organisationen und sogar für Vertreter*innen der Wirtschaft.

 

In der gegenwärtigen Lage reicht es daher nicht aus, sich nur auf den Ansatz zu konzentrieren, Menschen dazu zu bringen, für die Tie­re vegan oder direkt zu erklärten Anti-Speziesisten zu werden. Es ist eine Zeit, in der man sehr pragmatisch sein muss. Pragmatismus ist laut dem Cambridge Essential English Dictionary der Ansatz, ein Problem auf eine Art und Weise anzugehen, die den real existierenden Bedingungen entspricht, anstatt festen Theorien, Ideen oder Regeln zu folgen. Pragmatisch zu sein bedeutet also, sich um die Realität und nicht um abstrakte Regeln zu kümmern. Es ist schwierig, ein gutes Wort für das Gegenteil von Pragmatismus zu finden. Dogma­tismus hat eine zu negative Konnotation, während ein anderer Kandi­dat, der Idealismus, übermäßig positiv wirkt.

Ich werde das Wort idealistisch als das Gegenteil von pragmatisch verwenden und dabei im Auge behalten, dass Dogmatismus hinter jeder Ecke lauern kann.

Kampgane für einen Veggieday

Lassen Sie mich den Unterschied zwischen Pragmatismus und Idea­lismus am Beispiel der Kampagne für einen Veggieday (oder fleischfreien Montag) veranschaulichen. Diejenigen mit einer pragmatischen Einstellung würden die Kampagne also befürworten, weil sie sich am meisten mit der Frage beschäftigen: Funktioniert das? Diejenigen auf der anderen Seite des Spektrums könnten jedoch Probleme damit haben, von den Menschen zu verlangen, nur einen Tag in der Woche fleischfrei zu le­ben. Wenn wir glauben, dass das Töten von Tieren moralisch falsch ist, so die Argumentation, dann können wir die implizite Annahme auch nicht stillschweigend dulden, dass es in Ordnung sei, an den anderen sechs Tagen der Woche Tiere zu essen. Dies entspricht nicht der Überzeugung der Idealist*innen. Sie werden sagen, dass nur die Forderung nach einem Veggieday nicht richtig ist und deshalb nicht befürwortet werden sollte.

Prinzipien haben und Schwerpunkte setzen

Obwohl diese unterschiedlichen Positionen zu zwei unterschied­lichen Schlussfolgerungen führen können, wie z.B. die Unterstützung der Veggieday-Kampagne oder nicht, ist es wichtig zu beachten, dass die Idealist*innen – die sich auf »Richtigkeit« konzentrieren – Effizienz nicht grundsätzlich ignorieren. Sie denken vielleicht sogar wirklich, dass die Kampagne nicht funktioniert. Darüber hinaus glauben Idealist*in­nen oft, dass das, was moralisch richtig ist, zum besten Ergebnis führt, oder umgekehrt, dass etwas, was in ihren Augen nicht richtig ist, nicht funktionieren kann. Aber das ist eher eine Phantasie als eine Tatsache.

In ähnlicher Weise stimmen Pragmatiker*innen – die sich auf die »Wirk­samkeit« konzentrieren – mit dem Prinzip überein, keine Tiere zu nutzen, und ignorieren dabei die Frage der »Richtigkeit« nicht. Wir sehen also, dass sowohl Pragmatiker*innen als auch Idealist*innen sowohl die Wirk­samkeit als auch die Richtigkeit (die Ergebnisse und die Prinzipien) für wertvoll halten. Nur ihre Schwerpunkte sind verschieden. Niemand ist rein ergebnisorientiert, und niemand ist rein auf Regeln oder Prinzipien fixiert. Jede*r bis auf den*die skrupelloseste*n Pragmatiker*in hat Prinzi­pien, die er*sie niemals brechen wird. Alle bis auf den*die dogmatischste*n Idealist*in werden zustimmen, dass wir in bestimmten Situationen der Wirkung Vorrang einräumen und ein Prinzip vorübergehend zurückstel­len müssen.


Weitere Empfehlungen zum Weltvegantag:

 

 

Cover Tierethik Transdisziplinär

 

Björn Hayer ↗ / Klarissa Schröder ↗ (Hg.)

Tierethik transdisziplinär
Literatur – Kultur – Didaktik

Nur selten zuvor war es um Mensch-Tier-Verhältnisse derart schlecht bestellt wie in der Spätmoderne. Insbesondere die Potenzierung des Leidens durch die industrialisierte Landwirtschaft wirft zentrale Fragen der Tierethik auf – einem philosophischen Diskursfeld, das innerhalb der Human-Animal Studies von zentraler Bedeutung ist. Die in ihm miteinander im Wettstreit befindlichen Theorien strahlen zum einen direkt in die Gesellschaft aus, zum anderen begünstigen sie die Entwicklung neuer Sichtweisen auf Gegenstände der Kultur- und Literaturgeschichte.
Dieser Grundlagenband versammelt Beiträge, welche das interdisziplinäre Forschungsfeld wissenschaftlich und didaktisch ausloten.

 

 

Daniel Wawrzyniak

Tierwohl und Tierethik
Empirische und moralphilosophische Perspektiven

Was bedeutet es, dass es einem Tier gut geht? Empirische Untersuchungen aus Agrarwissenschaft und Veterinärmedizin können diese Frage nur unzureichend beantworten, auch die philosophische Literatur zur Tierethik hat sich bislang kaum mit dem Begriff Tierwohl und der empirischen Forschung dazu auseinandergesetzt.

Anhand einer philosophischen Analyse des Tierwohlbegriffs verbindet Daniel Wawrzyniak Moralphilosophie und Empirie und eröffnet dadurch ein grundlegendes Verständnis dessen, was das Wohl eines Tiers beinhaltet, welche Verantwortung Menschen hinsichtlich dieses Wohls besitzen und welche Konsequenzen sich daraus für das Halten und Nutzen von Tieren für menschliche Zwecke ergeben.

 

Cover Tierwohl und Tierethik