Kaum eine andere Kulturtechnik durchdringt alle Lebensbereiche so sehr wie das Lesen. Ob auf der Arbeit, in der Schule, beim Blick aufs Handy oder dem bloßen Weg durch die Stadt – überall werden wir mit Schrift konfrontiert. Umso wichtiger ist es, den sicheren Umgang mit Texten schon von klein auf zu lernen. Das Vorlesen spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es erweitert den Wortschatz, erhöht die Chancen in der Schule und stärkt die zwischenmenschlichen Fähigkeiten der Kinder.

Allerdings gibt ein Drittel der Eltern in Deutschland an, ihren Kindern nur selten bis gar nicht vorzulesen. Die Gründe dafür sind zahlreich: Zu wenig Zeit, fehlender Spaß, Zweifel an den eigenen Vorlesefähigkeiten und dem Nutzen des Vorlesens. Zudem wird häufig zu spät mit dem Vorlesen begonnen und zu früh damit aufgehört, was zu einem signifikanten Einbruch der Lesemotivation der Kinder führen kann. Doch schon wenige Minuten Vorlesen am Tag können einen positiven Unterschied machen.

Deshalb organisiert die Stiftung Lesen gemeinsam mit DIE ZEIT und der Deutsche Bahn Stiftung seit 2004 den bundesweiten Vorlesetag. Ziel ist es, die Freude am gemeinsamen Lesen zu wecken und aufrechtzuerhalten. Rund 700.000 Personen und Einrichtungen zeigen am 18. November 2022 unter dem Motto »Gemeinsam einzigartig«, dass Lesen und Vorlesen noch immer spannende und wichtige Aktivitäten sind.

Zum bundesweiten Vorlesetag stellen wir Titel aus unserem Programm vor, die das Lesen in den Mittelpunkt rücken. Unter anderem mit historischen, soziologischen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven gehen sie der Frage nach, welchen Stellenwert das Lesen in unserer Gesellschaft einnimmt, auch in Zeiten der aufsteigenden neuen Medien.



Franziska Wilke

Digital lesen
Wandel und Kontinuität einer literarischen Praktik

Was ist digitales Lesen? Wie gehen Lesende mit der digitalen Angebotsfülle um? Individuelle Bewältigungsmechanismen reichen oft nicht mehr aus, um diese Herausforderung zu meistern, und der Hype um digitale Medien verstellt den Blick auf ihre Tradition. Die Entwicklung stabiler Lesestrategien und Medienkompetenz erfordert daher eine systematische historische und wissenschaftliche Beschreibung des Phänomens. Aus der Synthese von Leseakttheorie, Materialitäts- und Medienforschung sowie Praxistheorie entwickelt Franziska Wilke eine Lesetypologie, die das Lesen digitaler Literatur veranschaulicht. Ihre gewonnenen Erkenntnisse nützen nicht nur Lesenden, sondern auch jenen, die es werden möchten.

Cathrin Klingsöhr-Leroy

Buch und Bild – Schrift und Zeichnung
Schreiben und Lesen in der Kunst des 20. Jahrhunderts

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wird in Literatur und Philosophie die Bedeutung des Lesens für Bildung und Erkenntnisfähigkeit reflektiert. Ebenso präsent ist der Abgesang des Buches. Man verdammt es als Symbol bürgerlichen Müßiggangs oder betrauert den Verlust von Kultur schlechthin. Parallel zu diesem Diskurs finden Schriftzüge, Wörter oder Buchstaben Eingang in die bildende Kunst. Cathrin Klingsöhr-Leroy betrachtet Werke u.a. von Paul Klee, Else Lasker-Schüler, Henri Michaux sowie Cy Twombly und Anselm Kiefer und stellt fest: Schrift ist hier nicht nur künstlerisches Element, sondern auch melancholische Erinnerung an ein vergangenes Zeitalter des Buches und der Literatur.

Julika Griem

Szenen des Lesens
Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung

»Erkenntnisreich, fundiert und durchaus unterhaltsam eröffnet Julika Griem neue Wege in der unerschöpflichen Landschaft der Leseforschung, um Lesesituationen, -interaktionen und -reflexionen systematisch zu ergründen. Der anregende Essay ist eine Einladung zur Vertiefung interdisziplinärer Forschungsansätze und weiterführender Fragestellungen.«

Michael Fassel, www.literaturkritik.de, 25.03.2022

Klaus Benesch

Mythos Lesen
Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter

»Buchmarkt und Geisteswissenschaften haben nur dann eine Zukunft, wenn sie sich den neuen Herausforderungen stellen, anstatt auf immer mehr Titel und den Rückfall in überholte, bildungsbürgerliche Positionen zu setzen. »Mythos Lesen« stellt Rettungsversuche vor, die die Digitalisierung ernst nehmen und öffnet den Blick für neue, nicht-elitäre Selbstbilder in den Geisteswissenschaften (Stichwort: public humanities).«

Klaus Benesch

Werner Sollors

Schrift in bildender Kunst
Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen

»Inspirierend, aber nicht streng systematisch erzählt ein kluger Kopf, was er gesehen und sich dabei gedacht hat.«

Eckhard Nordhofen, Eulenfisch, 2 (2021)

Hanjo Berressem

Ökologien des Lesens
Für eine erweiterte Philologie

Wie kann ein ökologisches Denken sowohl die Theorie als auch den Prozess des Lesens beschreiben und nachhaltig verändern? Was bewirkt es, von einer Leseökologie oder einem Lesemilieu zu reden? Und was genau ist aus ökologischer Perspektive der Bezug von Lesen und Leben? Im Licht dieser Fragen entwickelt Hanjo Berressem das Konzept des Lesens in einem Feld heterogener, sich überlagernder Leseszenen und -situationen. Ein solches »Lesen im erweiterten Feld« adressiert nicht mehr vornehmlich die Entzifferung von Bedeutung, sondern die gelebte Erfahrung einer als generalisierte Ökologie gedachten, in Textproduktionen und Leseprozessen ausgedrückten Welt: unserer Welt.

Sarah Reuss

Das Lesen als Handlung
Eine Ästhetik

»Wenn Ästhetik konsequent performativ gedacht wird, ist sie die beste Anleitung zur grundlegenden Erforschung menschlicher Handlungen wie dem Lesen.«

Sarah Reuss

Kristin Straube-Heinze / Carsten Heinze

Lesen lernen im Nationalsozialismus
Theoriekonzepte – Kindheitsbilder – Bildungspolitik

»Wie in einem Prisma werden im Alltagsobjekt Fibel plötzlich handfest politische, ästhetische, medien- und technikgeschichtliche Facetten sichtbar, die weit über pädagogisch-didaktische Fragen hinausreichen.«

Franka Marquardt, Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften, 43/3 (2021)

Ab Januar 2023 erhältlich:

Charlotte Coch / Torsten Hahn / Nicolas Pethes (Hg.)

Lesen / Sehen
Literatur als wahrnehmbare Kommunikation

Literatur ist nicht einfach eine Sammlung von Texten – sie ist ein materielles, haptisches und nicht zuletzt visuelles Erlebnis. Der Blick der Lesenden wird gleichermaßen fasziniert und irritiert durch das Aufscheinen des Wortes – nicht als auflösbares Zeichen, sondern als gedrucktes Artefakt. Theoretisch ist dies immer wieder ins Feld geführt worden – etwa in Luhmanns Funktionsbestimmung der Literatur -, im wissenschaftlichen Umgang mit literarischen Texten dominiert jedoch das Lesen. Die Beiträger*innen des Bandes widmen sich einer theoretischen, methodischen und praktischen Symmetrisierung von Lesen und Sehen für die Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts.